Das Flüstern der Schatten
Sorgen«, sagte sie zum Abschied und blickte ihn bei diesen Worten wieder an.
Hatte er jemals in ein so einsames, verzweifeltes Gesicht geschaut?
XXI
Gibt es ein Leben ohne Lüge? Einen Lebensweg, der nicht mit Unwahrheiten durchsetzt ist? David dachte dabei nicht an die kleinen Schwindeleien, die den Alltag erleichtern. Nicht an die erfundene Ausrede, die ein spätes Kommen rechtfertigt, die ausgedachte Geschichte, die einen vergessenen Geburtstag oder eine andere Unachtsamkeit kaschieren soll. Er dachte an das große Geheimnis, das er, das vielleicht jeder mit sich herumträgt. Was mochte es bei anderen Menschen sein? Die unterschlagene Erbschaft? Ein uneheliches Kind, von dem die Frau nichts ahnt? Die verbotene Liebe zu einem Verwandten? Ein Betrug an einem Freund oder dem Geschäftspartner? Er fragte sich, ob Mei mit einem großen Geheimnis lebte. Liebte sie womöglich heimlich einen anderen Mann, hatte sie irgendwann einmal eine Affäre gehabt, von der David nichts wusste? Er konnte es sich nicht vorstellen, aber kann man sich je sicher sein? Basierte nicht jede Biografie in irgendeiner Weise auf einer Lüge, einer Fiktion, einer Täuschung? Kann der Mensch sie hüten bis zu seinem Tode, oder bahnt sie sich irgendwann ihren Weg heraus aus ihrem Versteck? Entwertet diese Lüge das gelebte Leben? Was werden Mei und später sein Sohn sagen, wie wird Paul reagieren, wenn sie erfahren, worüber David mehr als dreißig Jahre geschwiegen hat? Werden sie alles, was er getan und gesagt hat in einem anderen Licht sehen? Wenden sie sich ab, oder werden sie ihm verzeihen können?
David saß auf der Schnellfähre von Hongkong nach Shenzhen und überlegte, ob er eine Wahl gehabt hatte. Damals vermutlich nicht, damals regierte im ganzen Land die Hysterie, und der 16-jährige Zhang sehnte sich nach Respekt und Anerkennung, er wollte viel zu sehr dazu gehören, um eine Wahl zu haben. Außerdem war er bis dahin in seinem Leben noch niemandem begegnet, der es gewagt hätte, Mao Tse-tung und seine Befehle, die Allmacht der KP und die offizielle Propaganda in Frage zu stellen oder David dazu angeregt hätte, darüber zumindest nachzudenken. Er war ein Blinder gewesen, der geglaubt hatte, sehen zu können.
Aber die Kulturrevolution währte von 1966 bis 1976, und seit ihrem Ende hatte er die Wahl gehabt, wie jeder, der an diesem Irrsinn beteiligt gewesen war. Von da an war jeder Tag eine Wahl gewesen, jeden Tag aufs Neue hatte David sich entschieden zu schweigen, anstatt die Wahrheit zu sagen und um Vergebung zu bitten. Dafür trug er die Verantwortung, und es gab, wenn er ehrlich war, nichts und niemanden, keine gesellschaftlichen Umstände und keine Partei, keinen Politkommissar und keinen Großen Vorsitzenden, die er für sein Schweigen verantwortlich machen konnte. Das hatte er vom Buddha gelernt. Wir sind die Herren unseres Handelns, wir kreieren unser eigenes Karma. Es ist unser Leben. Diese späte, für einen Chinesen in seinem Alter geradezu revolutionäre Einsicht war eine Befreiung gewesen, aber, wie jede Befreiung, brachte sie Verunsicherung und viele neue Fragen mit sich.
David quälten seine Gedanken so, dass ihm übel wurde und er an Deck gehen musste.
Das Boot jagte mit hohem Tempo durch den Hafen, der warme Fahrtwind zerzauste ihm die Haare, das Wasser war durch die vielen Schiffe aufgewühlt wie das einer Badewanne, in der Kinder plantschen. Die Wellen klatschten in schneller Folge an die Bordwand, und manche hoben das Boot hoch in die Luft, um es im nächsten Moment wieder in die Tiefe fallen zu lassen. Das fortwährende Auf und Ab verstärkte Davids Übelkeit nur noch. Er lehnte sich an die Reling, wollte es mit einer Meditation versuchen, rülpste stattdessen zwei Mal laut, fühlte, wie sein Magen revoltierte, mit aller Macht das vor Kurzem Gegessene so weit nach oben presste, bis die gebratenen Nudeln und die Wonton Suppe in einem Schwall aus ihm herausbrachen. Der eine Teil landete im Wasser, den anderen verteilte der Wind gleichmäßig auf seiner Hose und den Schuhen. Die Magensäure brannte in seiner Kehle, und er wünschte, er könnte sich irgendwo verkriechen, verstecken, Schutz suchen vor dem, was ihn nun in Shenzhen erwartete.
Ihm schauderte bei dem Gedanken, Anyi verhören zu müssen.
Sie verberge etwas und habe Angst vor Tang, hatte Paul gesagt.
Was sie auch verbarg, weshalb auch immer sie Angst vor Tang hatte, ihr Geheimnis, ihre Furcht waren mit seiner verwandt, etwas, von dem Paul nichts
Weitere Kostenlose Bücher