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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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ahnte. Wie sollte David sie nach den Gründen ihrer Angst befragen, ohne über seine eigene Rechenschaft abzulegen? Er fürchtete, dass Paul seine Unsicherheit spüren könnte, dass er Fragen stellen würde wie gestern auf Lamma und dass ihm, David, wieder nichts blieb, als seinen Freund zu täuschen.
    Immer führt eine Lüge zu einer zweiten, die zweite zu einer dritten, bis daraus ein Netz von Unwahrheiten, Entstellungen, Verdrehungen, falschen Behauptungen und Ausflüchten entsteht. Konnte es jemals bei nur einer Lüge bleiben?
    Er war sich nicht sicher, er wusste nur, dass er nicht mehr davonlaufen konnte, dass seine Lüge ihn eingeholt hatte, so wie die Lügen eines Tages auch Tang, ja das ganze Land einholen würden.
     
    David ging als einer der Letzten von Bord, er sah die Grenzbeamten, und zum ersten Mal seit langer Zeit wurde er beim Anblick einer Uniform wieder nervös. Suchten sie ihn bereits? Würden sie ihn gleich unter einem Vorwand in einen Nebenraum führen, ihm seinen Dienstausweis abnehmen und die Mordkommission verständigen.
    Unsinn! Lo vermutete ihn zu Hause auf dem Sofa, sein lädiertes Knie schonend. David hatte seit gestern nichts getan, was Verdacht erregt haben könnte. Jetzt jedoch war er dabei, eine Grenze zu überschreiten, und danach würde es kein Zurück mehr geben, das wusste er.
    Bisher hatte er sich nur entzogen, war trotz mehrfacher Einladung nicht wieder in die Kommunistische Partei eingetreten, saß in keinem Komitee, keiner Kommission, das immerhin war möglich im heutigen China, ohne dass man deshalb gleich als Konterrevolutionär gebrandmarkt wurde. Seine Kollegen verstanden ihn nicht, fanden ihn schrullig, aber harmlos. Nun widersetzte er sich, leistete, zum ersten Mal in seinem Leben, Widerstand, und das war nach wie vor gefährlich. Es war nur eine Frage der Zeit, von Stunden, höchstens einigen Tagen, bis seine Ermittlungen die Interessen von Menschen, einflussreichen Menschen, bedrohten, und die würden sich zu wehren wissen, und David war, abgesehen von Paul, allein.
    Der junge Grenzbeamte ahnte von all diesen Gedanken nichts, er schaute nur kurz auf den Pass, das Hongkong-Visum, den Computer und winkte David durch.
    Er nahm ein Taxi vom Fähranleger zu einem Café in der Nähe der Diamond-Villen, in dem Paul auf ihn wartete.
    »Wie siehst du denn aus? Hast du dich übergeben?«, entfuhr es Paul, als er seinen Freund erblickte.
    »Die See war rau, bin ein bisschen seekrank geworden, halb so schlimm«, antwortete David. »Ich gehe mal schnell auf die Toilette und mache mir die Schuhe und die Hose sauber.«
    Sie suchten das beste Taxi, das sie finden konnten, einen schwarzen, nagelneuen VW-Passat mit getönten Scheiben, und fuhren das kurze Stück zur Wohnanlage. Sie passierten die Wachposten, die sie mit einem knappen militärischen Gruß empfingen, und ließen sich vor dem Saphire absetzen.
    »Es kann sein, dass ich dich irgendwann bitte zu gehen«, sagte David, während sie durch die Garage liefen.
    »Was hast du vor?«, fragte Paul erschrocken. »Willst du ihr drohen?«
    »Nein, aber ich muss sehen, ob sie anfängt, mir zu vertrauen. Wenn mir das gelingt, ist es möglicherweise besser, wir sind für eine Weile zu zweit.«
    Paul nickte.
    Sie standen vor dem Eisengittertor, das die Garage vom Fahrstuhl trennte, schauten sich an, ohne ein Wort zu wechseln, David gab seinem Freund ein Zeichen, und der drückte auf die Klingel des Penthouse.
    Sie warteten, klingelten erneut, ohne Erfolg.
    »Vielleicht ist sie eingeschlafen? Sie war ziemlich erschöpft, als ich ging«, sagte Paul.
    »Oder sie hat Angst vor deiner Rückkehr oder einem anderen Besuch und macht deswegen nicht auf.«
    »Glaub ich nicht«, erwiderte Paul, dem der Gedanke nicht gefiel. »Vielleicht macht sie nur Besorgungen.«
    David presste nachdenklich die Lippen zusammen und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. »Ich hoffe, ihr ist nichts passiert. Sie hat dir mehr erzählt, als gut für sie sein könnte. Wir müssen unbedingt in die Wohnung.«
    Sie gingen zurück zu den Wachposten am Eingangstor und erkundigten sich nach dem Hausmeister.
    Der lebte im Keller des Saphire und musterte die beiden Fremden skeptisch. Natürlich hatte er einen Schlüssel, aber die Tür zu einer Wohnung durfte er laut klarer Anweisung des Managements nur in Notfällen oder im Beisein der Besitzer öffnen. Selbst Davids Dienstausweis beeindruckte ihn zunächst nicht. Erst als er das Wort Mordkommission las, zuckte der

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