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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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Emperor’s Paradise und wurde genommen. Der Job war ziemlich gut bezahlt und nicht schwer. Man musste Männer mögen und nackte Körper, und ich mag beides. Außerdem noch ein bisschen Gefühl in den Händen haben. Verstehen Sie mich nicht falsch, das war kein Bordell, wir sind mit den Männern nicht in einem Hinterzimmer verschwunden.«
    »Aber ins Hotel.«
    »Auch nicht, und wenn doch, dann nur ganz und gar freiwillig. Emperor’s Paradise hatte damit nichts zu tun.«
    »Und wo haben Sie Michael kennen gelernt?«
    »Er war einer meiner Kunden. Er kam eines Tages herein, und ich mochte ihn sofort. Er sah sehr gut aus, war äußerst höflich und zuvorkommend und so schüchtern, dass er sich gar nicht traute, das Handtuch abzulegen. Ich musste ihm nur einmal die Schenkel massieren, und schon hatte er eine Erektion, was ihm furchtbar peinlich war. Er sprach nur ein paar Brocken Chinesisch und hat ständig die Töne verwechselt, aber er hat sich bemüht.«
    Sie machte eine Pause, als wollte sie ihm die Gelegenheit geben, eine Frage zu stellen.
    »Nun sagen Sie es schon«, fuhr sie fort, »ich weiß doch, was Sie denken. Für jemanden, der die Welt sehen will, kam Michael sehr gelegen, stimmt’s? So eine Art Flugticket auf zwei Beinen. Aber Sie irren sich. Ich hatte schon, bevor ich Michael traf, sehr eindeutige Angebote. Ich hätte die Konkubine eines Bauunternehmers, eines Fabrikbesitzers, eines Bankers aus Hongkong oder eines hohen Parteikaders aus Peking werden können, und das waren nur die interessantesten Angebote. Die hatten alle, das können Sie mir glauben, viel, viel mehr Geld als die Owens. Aber ich wollte nicht. Ich will kein schöner Vogel sein, den sich irgendein reicher Mann in einem Käfig hält. Ich könnte behaupten, ich hätte auf Michael gewartet, aber so romantisch bin ich nicht. Es kam der richtige Mann zur richtigen Zeit. Ich liebe ihn, und ich glaube, er mich auch. Ich bin mir manchmal nicht ganz sicher, ob wir genau wissen, wen wir da eigentlich lieben, aber den Menschen, für den wir den anderen halten, den lieben wir.«
    Je länger sie sich unterhielten und je ernsthafter das Gespräch wurde, desto mehr verunsicherte sie ihn. Er hatte sie unterschätzt, sie war klug. Und außerdem besaß sie die Energie und Kraft einer Frau, die genau wusste, was sie wollte. Darin erinnerte sie ihn an seine Ex-Frau Meredith. Diese Stärke war Paul zeit seines Lebens fremd und unheimlich gewesen. Gleichzeitig faszinierte sie ihn.
    Was sie über Michael Owen sagte, klang ehrlich. Vermutlich liebte Anyi ihn wirklich, und plötzlich wurde Paul bewusst, dass er schon wieder jemandem gegenübersaß, der einen geliebten Menschen verloren hatte, und dass er, Paul, der Überbringer dieser schrecklichen Nachricht sein würde. Das hatte in seinen Überlegungen bisher überhaupt keine Rolle gespielt, er hatte Anyi, ohne darüber nachzudenken, auf eine bloße Informationsquelle reduziert. Die Vorstellung, ihr sagen zu müssen, dass Michael ermordet worden war, raubte ihm die Luft zum Atmen. Er spürte einen Druck auf der Brust, als hätte jemand eine Kette um seinen Oberkörper gelegt, die er nun enger und enger zog.
    »Ist Ihnen nicht gut?«, fragte Anyi. »Möchten Sie etwas zu trinken?«
    »Ja, etwas Wasser vielleicht.«
    Sie stand auf, ging in die Küche und kehrte mit einem Glas zurück.
    »Wollen Sie sich einen Moment hinlegen?«
    »Es geht schon, danke«, log er.
    Sie setzte sich wieder aufs Bett, hielt das Kissen wie eine Wärmflasche vor den Bauch und ließ ihn nicht aus den Augen. Ihr Blick war ihm unangenehm, er konnte ihn nicht deuten: Schaute sie ihn besorgt an, oder hatte sein plötzlicher Schwächeanfall ihr Misstrauen erregt?
    »Jetzt habe ich so viel von mir erzählt«, sagte sie, »nun möchte ich Sie etwas fragen.«
    »Ja, gern.«
    »Was ist mit Ihnen? Ist es wegen Michael?« Die Unsicherheit lag wie ein Schatten auf ihrer Stimme.
    Er antwortete mit einer Gegenfrage: »Haben Sie wirklich keine Idee, wo er stecken könnte?«
    »Nein.«
    »Hatte er abgesehen von Ihnen noch Freunde oder Bekannte in Shenzhen?«
    »Nicht dass ich wüsste.«
    »Mit wem könnte er sich gestritten haben?«
    »Wie kommen Sie darauf, dass er sich gestritten hat?«
    »Wer würde von seinem Verschwinden profitieren?«
    »Sie fragen ja wie ein Polizist.«
    »Was haben Sie zusammen in Shanghai gemacht? Auf welcher Baustelle ist Michael dort gewesen?«
    Paul sah, wie sich der kurze Moment ihrer Vertrautheit verflüchtigte, wie sie

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