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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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Discos und Bars wechselten. Diese Mädchen stammten aus Dörfern und Kleinstädten, waren viel zu ängstlich und schüchtern, um sich mit einem Ausländer einzulassen. Anyi hatte eine andere Geschichte. Ihr Ton, ihre Körperhaltung, ihre Gestik beeindruckten Paul, auch wenn ihm der Ehrgeiz und das Selbstbewusstsein, das sich darin ausdrückte, fremd waren.
    »Darf ich mich setzen?«
    Anyi antwortete nicht, deutete jedoch ein Nicken an.
    Paul nahm auf dem Sofa Platz.
    »Wissen Sie, wo Michael ist«, fragte er.
    »Ich dachte, er wäre in Hongkong.«
    »Da ist er nicht.«
    »Hier auch nicht«, antwortete sie kühl.
    »Vielleicht in Shanghai?«
    Sie schaute ihn lange an, es war ein kalter, abschätziger, fast emotionsloser Blick.
    Anyi schüttelte den Kopf.
    »Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«, wollte Paul wissen.
    Sie schüttelte wieder nur den Kopf.
    »Wann haben Sie zuletzt mit ihm telefoniert?«
    Schweigen.
    »Ist es normal, dass Sie tagelang nichts von ihm hören?« Sein Ton wurde ungewollt schärfer, ihr Schweigen ärgerte ihn. »Machen Sie sich denn gar keine Sorgen? Ihm könnte etwas passiert sein.«
    Ein Zittern ihrer Unterlippe verriet ihm, wie viel Kraft es sie kostete, ihr Gesicht zu wahren und nicht in Tränen auszubrechen. Sie schwieg nicht aus Trotz oder Unwissenheit, sie schwieg, weil sie fürchtete, beim nächsten Satz die Beherrschung zu verlieren.
    »Vielleicht braucht er Ihre Hilfe.«
    Das war der eine Satz zu viel. Die junge Frau rutschte so ruckartig vom Hocker als hätte sie jemand von hinten heruntergestoßen, drehte sich um und lief in ein anderes Zimmer. Er hörte ihr Schluchzen durch die offene Tür.
    Paul wünschte, David wäre bei ihm. Er hatte keine Ahnung, wie er sich verhalten sollte. Er war kein Kommissar. Ein erfahrener Polizist würde nun vermutlich nachsetzen, die Schwäche ausnutzen, vielleicht noch mit einer Bemerkung den Druck erhöhen, um die Frau zum Reden zu bringen. Er konnte das nicht. Anyi tat ihm leid, seine natürliche Reaktion war es, einem weinenden Menschen Hilfe anzubieten, und diesem Impuls folgte er, stand auf, ging ins Nebenzimmer, wo Anyi, das Gesicht in einem Kissen vergraben, auf dem Bett lag, setzte sich neben sie und strich ihr mit einer Hand über den Kopf.
    Sie ließ ihn gewähren. Während sie sich langsam beruhigte, wanderte sein Blick durch das Schlafzimmer. Am Kopfende des Betts saß eine große Mickymouse-Puppe aus Stoff, daneben lehnte ein rosa Kissen in Form eines Herzens.
    Gegenüber an der Wand hing ein weiterer großer Flachbildschirm, in der Ecke stand ein Schreibtisch mit einem Computer. Auf dem Fußboden lagen mehrere Bücher eines Englisch-Intensivkurses.
    »Wie lange kennen Sie Michael schon?«, fragte Paul, als ihr Schluchzen verstummt war.
    Sie drehte den Kopf zu seiner Seite, wischte sich mit dem Kissenbezug die Tränen aus dem Gesicht und sagte: »Fast genau ein Jahr.«
    »Lernen Sie für ihn Englisch?«
    »Ja. Er spricht nicht viel Chinesisch. Außerdem wollen wir später zurück nach Amerika.«
    »Zur Einstimmung schlafen Sie mit Mickymouse und tragen schon mal Sweatshirts der New-York-University?«
    »Ja«, sagte sie, und über ihr Gesicht flog ein kurzes Lächeln.
    »Wo wollen Sie leben in Amerika?«
    »Wenn mit der neuen Firma alles so klappt, wie Michael es sich vorstellt, am liebsten in New York.«
    »Dort bin ich aufgewachsen.« Paul hoffte, dieser Umstand würde sie ein wenig entspannen und zu weiteren Fragen animieren, aber Anyi verfiel wieder in Schweigen.
    »Wo kommen Sie her?«, fragte Paul nach einer Pause.
    »Aus Shenyang. Das liegt nördlich von Peking in der Mandschurei.«
    »Ich weiß.«
    »Waren Sie schon einmal dort?«
    »Häufiger.« Anfang der neunziger Jahre hatte Paul eine große amerikanische Brauerei beraten, die einen Staatsbetrieb in Shenyang kaufen wollte, und war im Zuge der Verhandlungen mehrmals in der Stadt gewesen. Er erinnerte einen klaren, tiefblauen Himmel und furchtbar kalte Wintertage, an denen die Höchsttemperaturen unter minus zwanzig Grad Celsius lagen.
    Die Tatsache, dass er ihre Heimatstadt kannte, beeindruckte Anyi. Sie schenkte ihm ein zweites und, wie ihm schien, längeres und herzlicheres Lächeln, richtete sich auf, nahm ein Papiertaschentuch vom Nachttisch und schnäuzte sich.
    »Sie sprechen gut Mandarin. Fast wie ein Chinese. Erstaunlich.«
    »Danke. Ich lebe seit dreißig Jahren in Hongkong und bin viel durch China gereist. Sprechen Sie Kantonesisch?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Was

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