Das Flüstern der Schatten
hat Sie von Shenyang nach Shenzhen gebracht?«
»Ich dachte, Sie kennen China ein wenig«, antwortete sie und strich sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht.
Paul vernahm deutlich die Enttäuschung in ihrer Stimme.
Als hätte sie eine so dumme Frage von ihm nicht erwartet.
»Wo kommen Sie her?«
»Geboren bin ich in Deutschland, aufgewachsen in New York.«
»Und leben seit dreißig Jahren in Hongkong. Warum?«
Er war sich nicht sicher, ob sie eine Antwort erwartete. Warum verlassen Menschen ihre Familien, ihre Heimat, den Ort, an dem sie geboren wurden? Er hatte sich diese Frage lange nicht mehr gestellt, früher hatte sie ihn sehr beschäftigt, ohne dass er darauf je eine schlüssige Antwort gefunden hatte. Abenteuerlust und Freiheitsdrang, hatte er auf entsprechende Fragen von Fremden geantwortet und damit verständnisvolles Nicken geerntet und sich immer wieder gewundert, wie leicht es war, jedes Gespräch mit den passenden Vokabeln zu ersticken. Wie wenig Menschen wirklich zuhörten und nachfragten. So musste er nicht von der Einsamkeit des Außenseiters erzählen, nicht von der Distanz, die er bereits als Kind zu seinen Eltern gefühlt hatte und die viel leichter zu ertragen war, wenn man sie in Meilen messen konnte.
Anyis Stimme holte ihn zurück. »Bevor Sie kamen, habe ich Hongkong TV geguckt. Da lief eine Sendung über chinesische Wanderarbeiter. Angeblich gibt es in China jetzt über hundertfünfzig Millionen Menschen, die aus ihren Dörfern in die Städte gezogen sind. Hundertfünfzig Millionen! Können Sie sich das vorstellen? Die meisten von ihnen sind noch jünger als ich, sechzehn, achtzehn, zwanzig Jahre alt. Sie verlassen ihre Dörfer, ohne einen Plan zu haben, was aus ihnen in den Städten werden soll. Warum? Was meinen Sie? Ich sage Ihnen warum: Weil sie es zu Hause nicht mehr aushalten!« Sie rutschte an das Kopfende des Bettes, lehnte sich an die Wand, nahm das rosa Kissen und hielt es sich vor den Bauch.
»Sie machen aber nicht den Eindruck, als wären Sie die Tochter eines armen Bauern, die vor der Armut auf dem Land in die Stadt geflohen ist.«
»Bin ich auch nicht. Meine Eltern sind kleine Parteifunktionäre in einer Lastwagenfabrik. Ich hab keine Ahnung, warum sie es in der Partei nicht zu etwas gebracht haben. Wahrscheinlich waren sie nicht ehrgeizig oder rücksichtslos genug. Ist mir auch egal, ich habe als Kind nichts entbehrt.«
Sie blickte an Paul vorbei aus dem Fenster, nachdenklich sah sie aus, zweifelnd, als wäre sie sich nicht sicher, ob sie mit dem Fremden noch mehr Erinnerungen aus ihrer Kindheit teilen wollte. Nach einer langen Pause, in der Paul nichts als ihren und seinen Atem hörte, erzählte sie weiter: »Ich bin 1982 geboren worden - verglichen mit den Jahren zuvor waren das politisch ruhige Zeiten. Für mich war die Vierer-Bande eine Gruppe Jungs aus der Nachbarschaft, die uns Mädchen ärgerten, und nicht die Gang um Maos Witwe, wenn Sie verstehen, was ich meine. Meine Eltern hatten eine kleine Werkswohnung mit eigener Küche und Toilette, für damalige Verhältnisse ein großer Luxus. Ich hätte nach der Schule in der Buchhaltung oder der Verwaltung der Fabrik anfangen können, aber dazu hatte ich keine Lust. Ich wollte weg, einfach nur weg.«
Sie schaute ihm direkt in die Augen. »Vielleicht aus denselben Gründen, aus denen Sie es in New York nicht mehr ausgehalten haben? Ich wollte weg, solange ich denken kann. Weg aus Shenyang. Als junges Mädchen stand ich in der Schule eines Tages vor einer Weltkarte, und ich erinnere mich noch genau, wie ich in dem Moment zum ersten Mal begriff, wie groß die Erde ist. Ich suchte mir drei Städte in China aus, in die ich reisen wollte: Peking. Shanghai. Shenzhen.«
»Warum sind Sie nach Shenzhen gegangen und nicht nach Peking oder Shanghai?«
»Reiner Zufall. Eine Bekannte arbeitete im Century-Plaza an der Rezeption und schrieb mir, dass die Stadt aufregend sei und dass sie in ihrem Hotel noch junge Frauen suchen. Da hab ich mich in den Zug gesetzt und bin in den Süden gefahren.«
»Und Ihre Eltern?«
»Wissen Sie, was mein Vater mir zum Abschied gesagt hat? Anyi-yi, du machst es richtig. Meine Generation wollte sich für das Land und die Revolution opfern, dabei ist nichts Gutes herausgekommen. Ihr denkt zuerst an euch, und das ist gut so. Eigentlich traurig, oder?«
Paul nickte, ohne etwas zu sagen.
»Ich habe«, erzählte sie weiter, »ein paar Monate an der Rezeption gearbeitet. Dann bewarb ich mich im
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