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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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ihr Sohn ermordet worden war. Er sah die weinende Meredith und sich und den toten Justin und dachte, dass jeder Mensch in der Liebe und in der Trauer, in der Freude und im Schmerz seine eigene Sprache hat und dass es eines der Wunder dieses Lebens war, dass wir uns überhaupt verstehen. Dann hatte er das Gefühl, dass mit jedem Atemzug ein wenig mehr Leben aus Anyis Gesicht wich, das Zucken hatte aufgehört, es rannen keine Tränen mehr, ihre Haut war weiß wie Schnee, ihr Blick ging an ihm vorbei.
    »Ich beantworte Ihnen jetzt zwei Fragen, und danach gehen Sie, haben Sie mich verstanden?«, sagte sie mit tonloser Stimme.
    »Ja«, antwortete Paul leise.
    »Was wollen Sie wissen?«
    »Was haben Sie in Shanghai gemacht?«, fragte Paul, ohne lange nachzudenken.
    »Wir sind in den letzten Monaten häufiger dort gewesen. Michael hat sich in Shanghai mit Wang Ming, dem Chef von Lotus Metal, getroffen, aber das alles wissen Michaels Eltern auch, das muss ich Ihnen nicht erzählen.«
    »Wo finde ich Wang Ming?«
    »Ist das Ihre zweite Frage?«
    »Nein.« Er überlegte kurz. »Warum haben Sie Angst vor Victor Tang?«
    »Warum habe ich Angst vor Victor Tang?«, wiederholte Anyi, als wollte sie sich vergewissern, dass sie die Frage richtig verstanden hatte. »Kennen Sie ihn überhaupt?«
    »Nein.«
    Sie nickte. »Sonst würden Sie auch wohl kaum diese Frage stellen.«
    »Das ist keine Antwort.«
    Sie schwieg für eine Weile, ihr Blick ging noch immer an Paul vorbei ins Leere, ihre Stimme hatte weder an Farbe noch an Ausdruck gewonnen. »Ich glaube, jeder, der ihn kennt, hat Angst vor Victor Tang.«
    »Michael Owen auch?«
    »Nein. Ich meinte jeder Chinese. Michael und seine Eltern nicht. Dafür habe ich sie am Anfang bewundert. Michael wirkte so mutig, so stark, so selbstbewusst, genau wie ich mir einen Amerikaner vorgestellt hatte. Er hatte keine Angst vor der Polizei, er hatte keine Angst vor Beamten, er ließ sich nicht einschüchtern, auch wenn Tang ihm drohte. Das hat mich beeindruckt. Aber allmählich wurde mir klar, dass er Tang gar nicht verstand. Michael hat nicht begriffen, welche Bedrohung von ihm ausgeht, und vor einer Gefahr, die man nicht kennt, kann man auch keine Angst haben. ›Das Recht ist auf meiner Seite, mach dir keine Sorgen‹, sagte er immer. Da habe ich gewusst, dass er nichts kapiert hat. Das Recht! In China!«
    Ihre Stimme füllte sich langsam wieder mit einem Ton, sie klang erstaunt, noch immer verwundert über so viel Naivität. »Er hat sich bemüht. Man kann ihm nicht vorwerfen, dass er sich nicht bemüht hätte. Er hat versucht, Mandarin zu lernen. Er hat ein paar Bücher über China gelesen und war fest überzeugt, dass Amerika und China sich, bei allen Unterschieden, gar nicht so fremd seien. Manchmal haben wir uns darüber richtig gestritten. ›Wir sind hier in China, nicht in Wisconsin‹, habe ich ihm gesagt, und er hat immer dasselbe geantwortet: ›Liebling, das ist egal, am Ende träumen wir alle den amerikanischen Traum.‹ Ich habe ihm widersprochen und gesagt, er irre sich, wir würden den chinesischen Traum träumen, aber er hat nur gelacht und behauptet, das sei der gleiche wie der amerikanische, nur in anderen Farben. Davon war er fest überzeugt.«
    »Warum hat Tang ihn bedroht?«
    »Er fragte immer, wovor ich nur solche Angst hätte. Ich habe ihm gesagt: ›Michael, es gibt für jeden Menschen genug Gründe, Angst zu haben, und für Chinesen vielleicht noch ein paar Gründe mehr.‹ Er hat es nicht verstanden«, antwortete sie.
    »Warum hat Tang ihn bedroht?«
    Statt zu antworten, schüttelte sie nur den Kopf.
    »Hat Tang etwas mit dem Mord zu tun?«
    »Das weiß ich nicht. Das werden Sie herausfinden oder auch nicht. Ich habe gesagt, ich werde Ihnen zwei Fragen beantworten, das habe ich getan. Gehen Sie jetzt. Bitte!«
    »Kann ich Ihnen nicht helfen?«
    »Ich wünschte, Sie könnten es.«
    »Vielleicht kann ich...«
    »Nein«, unterbrach sie ihn. »Sie können jetzt nichts für mich tun, außer mich allein zu lassen.« Sie wandte sich ab und ging zur Tür.
    Paul folgte ihr. Er hatte keinen Zweifel, dass sie mehr wusste, als sie bereit war zu sagen, aber es war auch klar, dass er zumindest im Augenblick von ihr nichts mehr erfahren würde. Er wollte, sobald er die Diamond-Villen verlassen hatte, David anrufen und ihn bitten zu kommen. Er mit seiner Erfahrung würde mehr Erfolg haben, er würde sie zum Sprechen bringen.
    Anyi öffnete die Tür. »Machen Sie sich um mich keine

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