Das Flüstern der Schatten
etwas zu sagen, und brachte dann doch nichts hervor.
Paul lag unter dem Moskitonetz und konzentrierte sich ganz auf die Stille. Er hatte die Fenster weit geöffnet und die Ventilatoren ausgeschaltet. Er dachte an die nächtliche Fährfahrt und den kurzen Fußweg vom Anleger ins Dorf, er dachte an seine Spaziergänge an den Lo So Shing Strand und die Töne der Nacht aus seinem Garten, die Stimmen des Abends, den Geruch nach Meer und die Feuchtigkeit in der Luft, die ihn schon beim Frühstück morgens auf der Terrasse schwitzen ließ. Lamma war ihm, ohne dass er es recht bemerkt hatte, in den vergangenen drei Jahren ans Herz gewachsen, er führte ein Leben, von dem Justin nichts wusste, nie etwas geahnt hatte, und je länger er darüber nachdachte, umso mehr tat ihm das weh. Gab es eine Möglichkeit, seinen Sohn daran teilhaben zu lassen? Wenigstens in Gedanken? Oder mit ihm zu reden, mehr, als es Paul ohnehin tat, ihm kleine Vorträge zu halten? Für alle Fälle? Wer wusste schon, wo Justin jetzt war. Paul beschloss, seinem Sohn einen Brief zu schreiben, nein, nicht einen, mehrere, in denen er sein Leben hier genau beschreiben würde. Briefe an Justin . Es war eine seltsame Idee, eine, die, spräche er darüber, vermutlich niemand verstehen würde, aber sie gefiel ihm, sie hatte etwas Zärtliches, etwas Tröstendes, und über diese Gedanken schlief er irgendwann ein.
Es war bereits spät am Vormittag, als Paul erwachte. Er hörte Davids Stimme aus dem Wohnzimmer. Hatten sie Besuch bekommen?
Paul stand auf, band das Moskitonetz mit einem Knoten zusammen, duschte, aber selbst das kalte Wasser war noch warm zu dieser Jahreszeit, viel zu warm. Er stieg die Treppe hinunter und sah David am langen Esstisch sitzen, vor sich Pauls aufgeklappten Computer, in der einen Hand einen Kugelschreiber, in der anderen das Telefon. Paul ging in die Küche, machte sich eine Kanne Jasmintee, schnitt eine Mango auf und setzte sich auf die Terrasse. Kurz darauf kam auch David raus.
»Guten Morgen. Wie war die Nacht?«, wollte er wissen.
»Es geht. Bist du schon lange wach?«
»Ja. Die Ruhe macht mich verrückt, in dieser Stille kann ich nicht schlafen. Ich habe die Zeit genutzt und im Internet recherchiert, ob ich etwas über Lotus Metal finde.«
»Und?«
»Viel ist es nicht, weder bei Google China, noch bei Baidu. Aber ein Freund, der in Peking im Wirtschaftsministerium arbeitet, konnte mir weiterhelfen. Lotus Metal ist ein eingetragenes Unternehmen, das zum Ministerium für Staatssicherheit gehört. Es besitzt in Shenyang eine Fabrik und ist einer der Zulieferer eines deutschen Autobauers, der dort ein Werk betreibt. Angeblich hat Lotus Metal sehr ehrgeizige Expansionspläne, eine große Fabrik in der Nähe Shanghais ist in Bau, eine zweite geplant. Wang Ming ist ihr Direktor. Er hat der China Economic News vor zwei Monaten ein kleines Interview gegeben, das ich auf deren Webseite gefunden habe. Die haben ihn recht kritisch gefragt, warum er so viel Geld investiere, der chinesische Automarkt leidet wohl unter erheblichen Überkapazitäten. Er rechtfertigte den Bau der neuen Fabriken mit einem zukünftigen Joint-Venture-Partner, dessen Namen er noch nicht nennen wollte, der aber über große Erfahrung in der Metall verarbeitenden Industrie verfüge und hervorragende Kontakte zu den großen amerikanischen Autokonzernen habe. Einige der Verträge seien bereits unterzeichnet, der Rest läge praktisch unterschriftsreif auf dem Tisch.«
»Glaubst du das?«, fragte Paul. »Wenn ich mich richtig erinnere, hat Richard Owen behauptet, der Name Wang Ming sage ihm nichts und Lotus Metal wäre eine Schnapsidee von Michael gewesen, aus der nichts geworden sei.«
»Vielleicht lügt Herr Owen, vielleicht waren die Verhandlungen aber auch noch gar nicht so weit fortgeschritten oder sind sogar gescheitert, und Wang Ming hat es in dem Interview nur gesagt, um öffentlich seine Investitionen zu rechtfertigen oder die Konkurrenz einzuschüchtern.«
»Das würde mich nicht überraschen.«
»Ich bekomme spätestens heute Abend genauere Informationen aus Peking. Mein Freund kennt einen der leitenden Funktionäre, die bei der Staatssicherheit für die Unternehmen verantwortlich sind. Der weiß wahrscheinlich auch den Namen des Joint-Venture-Partners und ob wirklich schon etwas unterschrieben worden ist.«
»Ich wusste gar nicht, dass die Staatssicherheit auch unternehmerisch aktiv ist«, sagte Paul verwundert.
»Sehr aktiv sogar. Natürlich
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