Das Flüstern der Schatten
einfach erpresst. Das war mit Sicherheit früher so, unter den Kommunisten, aber das können Sie nicht mit dem heutigen China vergleichen, das wissen Sie doch genauso gut wie ich. Schauen Sie sich um, wie sehr sich das Land verändert hat. Wir machen seit Jahren sehr erfolgreich Geschäfte hier und haben noch nie Probleme gehabt. Ich wünschte, all meine amerikanischen Geschäftspartner wären so seriös und zuverlässig wie Herr Tang. Wen meinen Sie überhaupt, wenn Sie von ›wir‹ reden?«
»Meinen Freund David Zhang und mich.«
»Sie ermitteln zu zweit und wollen die Arbeit der gesamten Mordkommission in Frage stellen? Wer hat Sie überhaupt darum gebeten, sich weiter um den Fall zu kümmern?«
»Niemand. David hat im Geständnis einige Ungereimtheiten entdeckt, denen er nachgegangen ist. Am Alibi gibt es keine Zweifel. Der Hilfsarbeiter kann es nicht gewesen sein, er lag am Tag der Tat krank im Bett. Auch dafür gibt es glaubwürdige Augenzeugen.«
»Ich schlage vor, wir warten den Prozess ab. In Amerika sind die Gerichte dazu da, die Schuld oder Unschuld eines Angeklagten festzustellen. Das ist in China, soweit ich weiß, nicht anders.«
Richard Owen machte Anstalten, sich zu erheben, für ihn war das Gespräch beendet.
»Darf ich Sie trotzdem bitten, mir ein paar Fragen zu beantworten?«
»Das dürfen Sie, aber ich werde es nicht tun«, sagte er und stand auf.
»Dann beantwortest du meine Fragen.« Elizabeth Owen hatte das Gespräch genau verfolgt und währenddessen ihren dritten Martini getrunken. Einer zu viel, das wusste sie, aber sie konnte nicht anders. Sie spürte, wie er ihr langsam zu Kopf stieg, sie kannte dieses Gefühl zu gut, nur dass er jetzt keine Leichtigkeit in ihr hervorzauberte, ihre Seele nicht mehr beruhigte, sondern darin Tore öffnete, und was daraus hervorquoll waren Hass, Angst und Selbstmitleid. Noch hatte sie ein wenig Zeit, sie musste ihre Fragen stellen, bevor die verheerende Wirkung des Alkohols sie endgültig in eine Furie verwandelte.
Richard Owen blickte seine Frau völlig verwirrt an. Diese Wucht, diese Schärfe in ihrem Ton, und das auch noch vor einem Fremden. Was war in sie gefahren? Wie viele Cocktails hatte sie getrunken? Er wollte keine Szene, nicht hier in dieser Lounge, und setzte sich wieder.
»Wusstest du, dass Michael in Shenzhen eine Wohnung und eine Geliebte hatte?«
»Nein.«
Er log. Sie sah es ihm an, aber damit wollte sie sich jetzt nicht aufhalten, darüber würden sie später reden.
»Wer ist Wang Ming?«
»Der Name sagt mir nichts.«
»Was ist Lotus Metal?«
Richard Owen seufzte tief, bevor er antwortete. »Das war eine Schnapsidee von Michael. Da die Geschäfte so gut liefen, wollte er mit einem Unternehmen aus Shanghai zusammen eine zweite Firma gründen. Die sollte Lotus Metal heißen. Ich hielt das für keine gute Idee, und es ist auch nichts daraus geworden.«
»Habt ihr euch darüber vor zwei Wochen so gestritten?«
»Liebling, ich weiß nicht, ob das jetzt der richtige Augenblick ist, um...«
»Habt ihr euch darüber so gestritten? Beantworte meine Frage, du Mistkerl.«
»Ja.«
»Was hat Tang damit zu tun?«
»Mit Lotus Metal? Nichts. Ich habe...« Die Töne seines Mobiltelefons unterbrachen ihn.
»Owen...Victor, was für ein Zufall. Ich sitze hier im Hotel mit Elizabeth und unserem Freund Paul Leibovitz, und wir sprachen gerade von dir.«
Richard Owen nickte mehrmals, es waren längere Ausführungen, denen er folgte, während sein Blick mehrfach von seiner Frau zu Paul und wieder zurück wanderte.
»Ja, das stimmt. Du hast Recht, eine gute Idee, danke. Ich werde sie fragen und mich gleich wieder bei dir melden.«
Mit einem Knopfdruck beendete er das Gespräch.
»Das war Victor Tang. Er hat uns für morgen Abend zum Essen in sein Haus eingeladen. Er würde sich freuen, wenn Sie, Herr Leibovitz, uns begleiten würden. Wären Sie damit einverstanden? Ist dir das recht, Elizabeth?«
Und ob sie wollte. Sie hatte geahnt, aber nichts gewusst, nichts wissen wollen. Damit sollte Schluss sein.
XXIII
Der zweite Martini war einer zu viel gewesen. Elizabeth Owen hatte ihn damit überrumpelt. Er hätte den Drink gleich zurückgehen lassen sollen. Stattdessen hatte er das Glas in zwei großen Zügen ausgetrunken. Er spürte noch immer den kalten, klaren Geschmack des Gins im Mund und hätte ihn am liebsten im hohen Bogen wieder ins Hafenbecken gespuckt. Er stieg die paar Stufen zur Anlegestelle hinunter, kaufte eine Fahrkarte und
Weitere Kostenlose Bücher