Das Flüstern der Schatten
wieder etwas von ihr hören.«
»Übertreibst du nicht?«
»Paul, du weißt nicht, mit wem wir es zu tun haben. Du hast keine Ahnung«, entfuhr es David laut und ungewöhnlich heftig. »Du kennst solche Menschen nicht.«
Paul beobachtete seinen Freund, der tief gebeugt über den gebratenen Nudeln saß, jetzt seinen Teller zur Seite schob und ihn fassungslos anstarrte. Wo war die Freude des Wiedersehens geblieben? Paul glaubte wieder dieses Flackern in den Augen zu erkennen.
»Kennst du Tang persönlich?«
»Die Frage hast du mir vor zwei Tagen schon einmal gestellt«, antwortete David, noch immer erregt.
»Das stimmt, aber du hast sie mir nicht beantwortet.« Warum reagierte er bloß so gereizt? »Du musst auch jetzt nicht antworten«, fügte Paul beschwichtigend hinzu. »Ich weiß, dass du mir nichts verschweigen würdest. Es gibt keinen Menschen auf der Welt, dem ich mehr vertraue als dir. Es ist nur...«, er suchte nach den richtigen Worten, »ich kenne dich nicht so aufgebracht. Ich mache mir Sorgen um dich.«
David wich seinem Blick aus. Er starrte schweigend auf den halb leeren Teller mit Pok Choy, die Suppenschüssel, das Huhn, das sie noch nicht angerührt hatten. »Ja«, antwortete er nach einer langen Pause. »Ich kenne ihn.«
»Woher?«
»Aus Sichuan. Wir waren während der Kulturrevolution in derselben Arbeitsbrigade in einem Dorf in den Bergen.«
»Und?«
David hob den Kopf, er schaute ihn jetzt wieder an, aber sein Blick war unendlich müde und traurig.
»Nichts und«, sagte er schließlich. »Es war keine angenehme Zeit.«
»Warum hast du das nicht früher gesagt?« Paul war erstaunt über die Erleichterung in seiner eigenen Stimme.
»Du weißt, wie ungern ich darüber rede«, antwortete David. »Es sind Jahre, an die ich mich nicht gern erinnere. Es tut mir leid.«
»Wenigstens verstehe ich jetzt, warum du immer so gereizt bist, wenn die Sprache auf Tang kommt.«
»Da ist noch etwas, worüber du dir klar sein musst«, sagte David, nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte. »Wir haben es nicht nur mit einem sehr mächtigen Menschen zu tun, wir missachten auch eine der wichtigsten Regeln unserer Kultur.«
»Was meinst du damit?«
»Wir haben keine Allianzen geschmiedet. Wir sind allein, nur du und ich. Nur Irre wagen es in China, Autoritäten herauszufordern, ohne vorher Verbündete um sich zu sammeln.«
»Mit wem hätten wir uns zusammentun sollen?«, fragte Paul.
»Keine Ahnung, und dafür ist es im Moment ohnehin zu spät. Aber mit Sicherheit hat Tang nicht nur Freunde, er wird auch Gegner und Feinde in der Partei, in der Stadtverwaltung, unter den Reichen der Stadt haben. Du weißt, wie es in China heute ist: Überall gibt es verschiedene Fraktionen und Flügel, die sich bekämpfen. Sie streiten um Geld und Macht, vom Politbüro abwärts bis zur kleinsten Parteizelle. Diese Machtkämpfe kenne ich seit Jahren aus dem Polizeipräsidium. Ich habe keine Ahnung, wer Tangs Gegner sein könnten und wo sie sitzen. In Shenzhen? In Sichuan? In Peking? Ich bin überzeugt, dass es sie gibt, und sie sind, wenn wir genug belastende Indizien, Beweise oder Zeugen finden, unsere einzige Chance.«
Sie löffelten schweigend ihre süßsaure Suppe.
»Hast du gezögert, Tangs Einladung anzunehmen«, wollte David nach einer Weile wissen.
»Nein. Warum sollte ich?«
»Aus Furcht. Das Abendessen könnte eine Falle sein.«
Paul war irritiert, er hatte bisher nicht einen Moment daran gedacht, dass ihm persönlich Gefahr drohen könnte. Er hatte sich bisher als Außenstehenden gesehen, als jemand, der eher zufällig einer Fremden behilflich ist und dann seinem besten Freund zur Seite steht, aber nicht als Beteiligten oder Mitwisser und schon gar nicht als Handelnder, von dem sich irgendjemand bedroht fühlen müsste. »Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Hältst du das für möglich?«
»Es ist unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen.«
Eine Falle? Wie kam David auf die Idee? Paul reiste nun seit fast dreißig Jahren durch China und hatte sich noch nie bedroht gefühlt oder um die eigene Sicherheit gefürchtet. Die Vorstellung war zu abwegig, um sich lange damit zu beschäftigen. »Nein, ich bin nur gespannt, was passiert und was Tang von mir will. Aber Angst? Überhaupt nicht.«
Paul bat um die Rechnung und zahlte.
Auf dem Weg hoch nach Tai Ping sprachen sie nicht. Jeder war, so schien es Paul, in seinen eigenen Gedanken versunken. Mehrmals holte David tief Luft, hob an, um
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