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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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traurige, endlos scheinende Stille. Sein Schweigen machte ihn wahnsinnig, sie musste an ihm zweifeln. Er wollte sich zwingen. Er öffnete den Mund, aber sie schüttelte nur einmal leicht den Kopf.
    Sie stellte keine Frage. Sie schaute ihn nur an, strich sanft über seine Lippen und nahm sein Gesicht in ihre Hände, als hätte sie niemals zuvor eine solche Kostbarkeit berührt.
    »Ich liebe dich«, wiederholte sie und küsste ihn mit einer Leidenschaft, die so voller Zärtlichkeit und Begierde war, dass er für einen Moment das Gefühl hatte, das Bewusstsein zu verlieren. »Ich liebe dich.«

XXIV
    Es war ein Fehler gewesen, noch einmal zu Anyi in den ersten Stock zu gehen. Sie hatte gerade geduscht und saß auf dem Bett, in der einen Hand die Fernbedienung, in der anderen eine Schale mit Reisgebäck, und starrte auf den Bildschirm. Ihre Haut war blass, sie unterschied sich kaum von der weißen, seidenen Bettwäsche, umso deutlicher hoben sich ihre schwarzen Haare, ihre dunkelbraunen Augen und die dunkelroten, geschwungenen Lippen ab. Ihr Bademantel war ein wenig verrutscht, Tang erkannte den Ansatz einer fast rosafarbenen Brustwarze, und dieser Anblick erregte ihn für einen Moment so, dass er sich zu ihr aufs Bett legte. Sie musste seine Erregung gespürt haben und sah es offensichtlich als ihre Pflicht an, diese zu steigern und ihr nachzugeben. Sie legte das Gebäck und die Fernbedienung zur Seite, beugte sich über ihn und begann sein Hemd aufzuknöpfen. Sie strich ihm mit den Fingerspitzen über die Brust und lockerte seinen Gürtel.
    Kurz darauf lag Victor Tang halb nackt auf dem Bett, Anyi saß auf ihm, sie bewegte ihre Hüften rhythmisch auf und ab, er massierte mit beiden Händen ihre kleinen, festen Brüste und dachte dabei an die Owens und Paul Leibovitz und überlegte, welche Rolle der in dieser Geschichte spielte. Anyi atmete heftig und stöhnte laut, aber ihre Lustschreie waren zu schrill, klangen zu übertrieben, um ihn von ihrer Ekstase zu überzeugen. Der Fernseher lief noch, Tang sah aus den Augenwinkeln im rechten oberen Bildrand, dass die Kurse in Hongkong gefallen waren.
    Als sie merkte, dass er trotz der Ablenkung gekommen war und allmählich erschlaffte, stieg sie von ihm herunter, legte sich neben ihn und griff nach der Fernbedienung. Sie konnte nicht viel gespürt haben, Tang machte sich keine Illusionen, aber dies war nicht der Moment, um über Anyis Sexualität nachzudenken. Sie war eine Konkubine, eine außergewöhnlich intelligente und gut aussehende, aber trotzdem nicht mehr als eine Konkubine, von denen es in Shenzhen Zehntausende gab.
    Bis vor wenigen Tagen war sie Michaels Geliebte gewesen, jetzt gehörte sie ihm. Er hielt sie aus, er würde die Miete der Wohnung weiter bezahlen, ihr ein großzügiges Taschengeld geben und wenn ihm danach war, sie mit Geschenken verwöhnen. Ihre Gegenleistung bestand darin, ihm jederzeit zur Verfügung zu stehen. Das mochte für sie nicht immer befriedigend sein, war aber mit Sicherheit besser, als für fünfhundert Yuan im Monat an irgendeinem Fließband Plastikspielzeug oder Glühlampen in Pappkartons zu verpacken und sich mit sieben anderen jungen Frauen ein Zimmer zu teilen. Das wusste sie, und deshalb würde sie auch nicht auf die Idee kommen, sich zu beklagen. Das taten nur die Dummen und die Dreisten, zu denen gehörte sie nicht. Es war ein Arrangement auf Zeit, eine, wenn man so wollte, geschäftliche Beziehung, die wie jede geschäftliche Beziehung auf einer Kosten-Nutzen-Kalkulation basierte und die so lange hielt, wie sie beiden zum Vorteil gereichte, und die genau an dem Tag enden würde, an dem einer der Beteiligten einen besseren Deal gefunden hatte. Es war das Gegenteil von Liebe.
    Warum war das für Michael Owen so schwer zu verstehen gewesen? Er hatte versucht, sich mit chinesischer Geschichte vertraut zu machen, Bücher gelesen, in denen das Konkubinenwesen im alten China sicherlich ausführlich erklärt wurde. Weshalb begriff er es trotzdem nicht? Tang hatte einmal, als er merkte, dass es ernster wurde, versucht, ihm das Prinzip des Konkubinats und seine Renaissance im heutigen China zu erklären. Michael hatte ihn nur empört angestarrt, war furchtbar wütend geworden und hatte gesagt, er, Tang, habe nicht die geringste Ahnung, was ihm Anyi bedeute, sie sei anders, sie sei keine Konkubine, sie sei seine Freundin, er liebe sie über alles und sie liebe ihn und nicht sein Geld oder seine Staatsangehörigkeit, daran zweifle er nicht

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