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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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könnte er noch die 12 Uhr 15 Schnellfähre schaffen. Er zog sich rasch an und wollte sich von David verabschieden, aber der war am Telefon. Er hielt kurz die Muschel zu, flüsterte »ein Bekannter in Shanghai« und »viel Glück, pass auf dich auf«, wandte sich wieder ab und sprach weiter.
     
    Paul hatte Herzklopfen, als er die Treppe zu Christines Büro hochstieg. Er wollte es auf die zwei Stockwerke schieben, auf die Hitze im Treppenhaus, auf den Bluthochdruck, unter dem sein Vater so gelitten hat, und wusste selber, wie lächerlich das alles war. Er freute sich auf Christine, einen anderen Grund gab es nicht, und das war wunderschön und unheimlich zugleich. Er konnte sich nicht erinnern, wann sein Herz das letzte Mal in der Erwartung eines Menschen so heftig gepocht hatte. Er blieb im Flur stehen, denn er hörte Christines Stimme schon durch die Tür, diese Stimme, die im Büro energisch, geschäftig und bestimmt klang und in seinen Ohren so zärtlich.
    Er klingelte, trat ein und hatte plötzlich das Gefühl, sich wieder in den schüchternen jungen Mann zu verwandeln, der er einst gewesen war und der in Gegenwart von Frauen an einem langen Abend nur wenige Sätze herausbekam.
    Sie gingen hinunter, Christine nahm seine Hand, sie überquerten die Johnson Road, gingen über den Southorn Playground und saßen ein paar Minuten später in einem engen, überfüllten Coffee-Shop. Paul konnte es kaum abwarten, ihr von den Owens und Anyi zu erzählen und wie er Michaels Geliebte gefunden hatte, aber Christine bestellte zunächst, ohne ihn zu fragen, eine Portion von den mit schwarzem Sesam gefüllten Reisbällchen, einen Pudding mit Mango und zwei Milchkaffee.
    »Einverstanden?«
    Paul lächelte und nickte, er hätte die gleiche Wahl getroffen. »Christine, du wirst es nicht glauben, aber ich habe Michael Owens...«
    Sie unterbrach ihn mit einem energischen Kopfschütteln.
    »Paul, bitte sei mir nicht böse, aber ich will es nicht wissen.«
    »Warum nicht?« Er bemühte sich, seine Enttäuschung zu verbergen.
    »Weil ich dir nicht helfen kann.«
    »Ich erwarte doch auch gar keine Hilfe.«
    »Weil ich es nicht mal mit dir teilen kann. Ich habe in der vergangenen Nacht nicht geschlafen. Ich übertreibe nicht. Ich lag so wach im Bett, als hätte ich Aufputschmittel genommen.«
    »Dafür gibt es keinen Grund...«, widersprach er und stockte. Nach allem, was David ihm gesagt hatte, konnte er ihr gegenüber nicht so tun, als würde er nach Shenzhen eine Vergnügungsreise unternehmen.
    »Das ist völlig egal. Was du sagst und was ich höre, sind zwei ganz unterschiedliche Dinge, und das wird sich auch nicht ändern. Jedes Detail, das du mir erzählst, jeder Mensch, von dem du mir berichtest, würde meine Angst nur vergrößern. Du hast dich entschlossen, deinem Freund zu helfen. Ich respektiere das. Ich bin, wenn du nach China fährst, in Gedanken bei dir, jede Minute, was sage ich, jede Sekunde. Ich werde dich nicht mehr bitten, nicht zu fahren, ich vertraue dir, und trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb will ich nicht wissen, was du dort machst. Kannst du das verstehen?«
    Paul fürchtete, er konnte es nicht. Er würde sich im umgekehrten Fall ganz anders verhalten, er würde alles wissen wollen, jede Einzelheit, jeden Kontakt, jedes Gespräch würde er so genau wie möglich geschildert haben wollen. Zuvor hätte er sie gebeten, ach was gebeten, er hätte sie bedrängt, nicht zu fahren, er hätte keine Ruhe gegeben, bis sie einlenkt, und wenn nicht, hätte er ihre Weigerung, seinem Wunsch zu entsprechen, als einen eindeutigen Beweis ihrer mangelnden Zuneigung gesehen.
    »Ich weiß nicht, ob ich an deiner Stelle so viel Verständnis aufbringen würde.«
    »Es ist kein Verständnis.«
    »Dann eben Großmut.«
    »Auch keine Großmut. Ich liebe dich. Das ist alles.«
    Er wollte ihr antworten. Dieselben drei kurzen Wörter. Ich liebe dich. Er wollte es hinausschreien. Ich liebe dich. Oder es ihr ins Ohr flüstern, aber es ging nicht. Er kriegte keinen Ton heraus und verstand nicht, warum. Weshalb war es so schwer auszusprechen, was er fühlte, er wusste doch, was er sagen wollte, nichts wäre gelogen gewesen, nichts geheuchelt, und trotzdem kam ihm kein Wort über die Lippen. Als hätte er das Sprechen verlernt. Als herrsche in ihm nichts als eine graue, kalte, tonlose Leere. Gleich würde sie fragen ›Du mich auch?‹, das taten alle Frauen in so einer Situation, und er hätte ihr keine andere Antwort zu bieten als eine

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