Das Flüstern der Schatten
ihn, den Wagen zu holen und in der Auffahrt zu parken. Bei seinen chinesischen Besuchern verfehlte das nie seine Wirkung. Die meisten von ihnen waren zwar nicht in der Lage, den Unterschied zwischen Dom Perignon und billigem Schaumwein zu bestimmen, aber immer häufiger war jetzt zumindest einer in der Gruppe dabei, der eine Vorstellung davon hatte, mit welch teuren und ausgewählten Getränken Tang sie verwöhnen ließ, und dann dauerte es zumeist nicht lange, bis es sich herumgesprochen hatte und alle in der Runde dankbar und vor allem ein wenig ehrfürchtig ihr Glas auf den Gastgeber erhoben. Wem weder der Wein noch der Champagner oder die Suppe aus Haifischflossen imponierte, den beeindruckten der Ferrari vor der Tür oder die Golfschläger aus Gold im Flur. Tang war immer wieder fasziniert, wie zuverlässig seine Tricks funktionierten, wie sehr Reichtum die Menschen einschüchterte. Er selbst machte sich nichts aus teuren Getränken, er nippte an ihnen und trank niemals mehr als ein Glas am Abend. Autos interessierten ihn ebenso wenig, und es gab für ihn nichts Langweiligeres als Golf zu spielen, aber davon ahnte niemand etwas. Der Luxus, den er zur Schau stellte, bestand aus sorgfältig ausgewählten Symbolen, Gesten und Zeichen, die jedem Gast sofort zu verstehen gaben, welchen Platz Victor Tang in der neuen Hierarchie des heutigen Chinas einnahm. Um mehr ging es nicht.
Auch Paul Leibovitz sollte sofort spüren, mit wem er es zu tun hatte. Solange Tang nicht wusste, warum sich dieser Mensch in die Angelegenheiten der Owens und damit auch in seine, Tangs, einmischte und Nachforschungen anstellte, solange musste er auf der Hut sein.
Handelte er wirklich, wie er Anyi gegenüber behauptet hatte, im Namen der Familie? Das wären schlechte Nachrichten, denn dann war er vermutlich eine Art Privatdetektiv, der hier im Auftrag von Elizabeth herumschnüffelte, ohne dass Richard etwas davon wusste. Oder war der vielleicht eingeweiht und spielte seit Tagen ihm gegenüber den Ahnungslosen? Arbeitete er allein, oder bekam er in Shenzhen von jemandem Unterstützung? Half ihm womöglich Kommissar Zhang, von dem Lo einmal erzählt hatte und der vor einigen Tagen in der Nähe der Cathay Heavy Metal Fabrik gesehen worden war?
Zhang? Ein häufiger Familienname, er kannte viele Zhangs, einer war ihm besonders in Erinnerung, aber das konnte unmöglich derselbe sein. Er hatte nie daran gedacht, Lo zu fragen, ob sein Untergebener aus Sichuan stammte. Es wäre nicht auszudenken, wenn sie sich jetzt nach über dreißig Jahren unter diesen Umständen wieder begegnen würden.
Tang hörte das Summen des elektrischen Motors, der das schmiedeeiserne Tor zum Grundstück öffnete, machte die Haustür auf und trat hinaus. Sein schwarzer Mercedes rollte langsam am Ferrari vorbei die Auffahrt hoch und kam direkt neben ihm zum Stehen. Er ging um den Wagen herum, öffnete Elizabeth die Tür und deutete eine Verbeugung an. Sie hatte schon etwas getrunken, er konnte es riechen und sah es in ihren Augen. Tang hatte sie einmal bei einem Essen betrunken erlebt, es war ein entwürdigender Abend gewesen, sie hatte unter dem Tisch ihre Hand auf seine Beine gelegt, ihr Kopf war mehrfach auf seine Schulter gefallen, und am Schluss hatte sie nur noch gelallt und völlig ihr Gesicht verloren. Tang verachtete Menschen, die sich nicht unter Kontrolle haben.
Um Gottes willen, wie sah denn Richard aus? Er musste in den vergangenen Tagen mehrere Kilos verloren haben, war aschfahl im Gesicht und stand so gebeugt vor ihm, als hätte er einen Buckel.
»Herr Leibovitz? Sehr angenehm, ich habe schon viel von Ihnen gehört.«
Anyi hatte nicht übertrieben. Tang sah, dass er es hier mit einem Fremden zu tun hatte, den er ernst nehmen musste. Er konnte nicht einmal sagen, was ihn auf Anhieb so beeindruckte, war es die Art, wie er ihn anschaute, dieser Blick, der seinem auch nach Sekunden nicht auswich und in dem keine Angst lag? Oder dieser Schatten, den Tang in Pauls Gesicht zu erkennen glaubte und der ihm auf eine geheimnisvolle Weise vertraut vorkam? Wenn er von ihm etwas erfahren wollte, musste er Geduld haben und durfte ihn den ganzen Abend über nicht aus den Augen lassen.
Tang bat seine Gäste ins Haus, dort wartete ein Kellner mit kalten feuchten Tüchern, damit sie sich nach der Fahrt ein wenig erfrischen konnten. Ein anderer brachte ein Tablett mit Gläsern und den Champagner. Er öffnete die Flasche und schenkte ein, immer mit dem Etikett nach oben,
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