Das Flüstern der Schatten
eine Sekunde. Sie lerne für ihn Englisch, und er sei fest entschlossen, sie zu heiraten und eines Tages mit ihr nach Amerika zurückzukehren. Dieser impulsive Wutausbruch, der keine Widerrede duldete, hatte Tang gekränkt, er fühlte sich bei Michaels Worten an das Gelächter der Studenten in Harvard erinnert, als er ihnen von seiner Idee von einem China als Fabrik der Welt erzählt hatte. Sie hatten ihn ausgelacht, Michael beschimpfte ihn, beide aus denselben Gründen: Sie verstanden dieses Land und seine Kultur nicht, selbst wenn sie sich, wie Michael, darum bemühten. Sie konnten sich einfach keine Vorstellung davon machen, wie hungrig die Menschen hier waren. Sie wussten nicht, was es hieß, um Jahrzehnte seines Lebens betrogen worden zu sein. Weder die Harvard-Studenten noch Michael, geschweige denn sein Vater, konnten begreifen, wie oft die Menschen hier belogen worden waren, wie viel ungelebtes Leben sie mit sich herumschleppten und wie sehr es danach gierte, gelebt zu werden.
Michaels Empörung war Tang trotzdem nicht aus dem Kopf gegangen. Michael Owen hatte an jenem Tag so überzeugt und überzeugend gesprochen, dass Tang neugierig geworden war. Und wenn er, Tang, sich doch irrte? Möglicherweise war diese junge Frau eine der seltenen Ausnahmen. Tang fragte sich, ob er darüber enttäuscht oder erfreut wäre.
Als Michael das nächste Mal für ein paar Tage nach Wisconsin fuhr, lud Tang Anyi zum Abendessen ein. Sie wirkte in der Tat nicht wie eine der Konkubinen chinesischer Geschäftsleute, von denen er bisher so viele kennen gelernt hatte und die so austauschbar waren, dass er sich nicht an eine von ihnen erinnern konnte. Sie war anders. Klüger, schöner, selbstbewusster. Der Stolz, sich nicht vom Fließband einer Fabrik über eine Karaokebar in das Bett des nächstbesten reichen Mannes hochgearbeitet zu haben, war ihr anzumerken. Sie leistete es sich, wählerisch zu sein, aber sie gehorchte denselben Gesetzen. Er sah es in ihren Augen. Er sah es in ihrem Gesicht. Er sah es in ihren Bewegungen. Er roch es, wie ein Hund die Fährte eines verwundeten Tieres aufnimmt. Michael Owen konnte sie täuschen, ihn, Victor Tang, nicht. Sie war der Trostlosigkeit ihrer Kindheit entkommen und wollte um nichts in der Welt dorthin zurück. Sie wusste, dass es bei den Reformen viele Gewinner gab und mindestens ebenso viele Verlierer. Sie hatte verstanden, dass auf dem freien Markt am Ende alles eine Sache von Angebot und Nachfrage war und heute jeder seinen Preis hatte. Auch Anyi.
Es bedurfte noch eines zweiten Treffens am folgenden Tag, um sie mit einer Mischung aus charmanten Versprechen und sanften Drohungen davon zu überzeugen, dass es für sie nur etwas zu gewinnen und nichts zu verlieren gab, wenn sie ihn, Victor Tang, nach Hause begleitet. Sie war zu klug, um sein Angebot abzulehnen. Wie ein guter Hedgefondmanager sicherte sie ihre Investition ab. Niemand konnte ihr schließlich garantieren, dass Michael sein Wort hielt und sie mit nach Amerika nahm. In jener Nacht hatte Tang sie drei Mal gevögelt, und wenn er es recht bedachte, waren es die einzigen Male gewesen, an denen es ihm wirklich Spaß gemacht hatte. Aber vielleicht lag es auch nur an der Befriedigung, die er dabei empfand, Recht behalten zu haben.
Tang stand auf, zog sich wieder an und warf Anyi einen Blick zu, den sie nicht erwiderte. Er verließ das Schlafzimmer und ging wieder hinunter, ohne dass sie in der Zeit ein Wort gewechselt hatten.
Auf dem Tisch im Esszimmer lagen silberne Stäbchen, das blau-weiße Geschirr war auf das dunkle Rosenholz abgestimmt. Die kalten Vorspeisen standen bereits zwischen den Gedecken und sahen köstlich aus. Tang hatte seinen Koch angewiesen, ein zwölfgängiges chinesisches Menü vorzubereiten und außerdem eine Flasche Dom Perignon kalt zustellen und zwei Flaschen vom Petrus, dem 89er Jahrgang, aus dem Keller zu holen.
Tang wollte an diesem Abend nichts dem Zufall überlassen. Er kannte Paul Leibovitz zwar nicht, und nach allem, was er von Richard Owen gehört hatte, schien er einer der wenigen Ausländer zu sein, die lange in Hongkong leben und es fertigbringen, nicht reich zu werden. Tang fragte sich, wie das möglich war, ob dieser Mann schlicht unfähig war oder ob er zu den wenigen Menschen gehörte, die sich nicht für schnelle Autos, gutes Essen oder teuren Wein interessierten? Tang überlegte kurz, ob er den gelben Ferrari in der Garage lassen sollte, rief dann aber doch einen seiner Fahrer und bat
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