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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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wie Tang es ihm gezeigt hatte. Tang beobachtete Leibovitz und bemerkte sofort, dass er nicht zu den Menschen gehörte, denen man mit Dom Perignon imponieren konnte.
    Vielleicht mit den beiden alten Vasen aus der Ming-Dynastie, die er kürzlich für hunderttausend Dollar in New York ersteigert hatte. Kostbare Stücke. Sie waren über 150 Jahre im Besitz von Ausländern gewesen, dank Victor Tang waren sie nun endlich in ihre Heimat zurückgekehrt. Demnächst wollte er sie einem Museum in Shanghai als permanente Leihgabe zur Verfügung stellen.
    Leibovitz hörte aufmerksam zu, zuckte jedoch nicht einmal, als Tang die Kaufsumme nannte, während Richard einen dümmlichen Pfiff ausstieß und ihm anerkennend auf die Schulter klopfte.
    Was war jetzt passiert? Warum brüllte Elizabeth den Kellner an?
    Sie kam auf ihn zu, mit dem Glas in der Hand und einem Blick, der Unheil versprach.

XXV
    Champagner mochte sie nicht, es spielte keine Rolle, welchen dieser unaussprechlichen französischen Namen sie trugen. Viel zu viel Kohlensäure und viel zu wenig Alkohol, man musste schon eine ganze Flasche trinken, um eine Wirkung zu spüren. Danke, nein, auch keinen Rotwein, von welchem Château auch immer. Der machte sie träge und müde, und wenn sie heute Abend irgendetwas nicht sein wollte, dann träge und müde. Gab es denn in keinem dieser gottverdammten alten Schränke und Truhen eine Hausbar mit etwas Anständigem zu trinken? Sie hatte ja nicht vor, sich sinnlos zu besaufen, aber diesen Abend ganz ohne Alkohol zu überstehen, das würde ihr nicht gelingen. Das Gespräch gestern mit Paul ließ ihr keine Ruhe, seine Fragen und vor allem Richards zögerliche Antworten gingen ihr nicht aus dem Kopf. Die ganze Nacht hatte sie grübelnd neben ihrem schnarchenden Mann gelegen. War es wirklich möglich, dass ein Unschuldiger in Haft saß, weil er ein erzwungenes Geständnis unterschrieben hat? Elizabeth Owen konnte sich das nicht vorstellen, aber sie hatte sich vorgenommen, Victor Tang zur Rede zu stellen, sie wollte herausfinden, ob er möglicherweise etwas mit dem Mord zu tun haben könnte und ob Paul Leibovitz mit seinen Behauptungen Recht hatte. Aber dafür bräuchte sie Hilfe, eine Flasche Gin oder einen trockenen Martini zum Beispiel. Oder einen dreifachen Whiskey. Ihretwegen auch einen Wodka, aber bitte nicht aus diesen winzigen Schnapsgläsern. Der Kellner starrte sie an, ohne eine Miene zu verziehen, und hielt ihr weiter stur das silberne Tablett mit dem Rotwein und dem Glas Champagner vor die Nase. Verstand der denn überhaupt gar kein Wort Englisch? M-a-r-t-i-n-i? W-o-d-k-a? W-h-i-s-k-e-y?
    »Liebling! Liebling!« Was ruft Richard denn hier durch das ganze Zimmer? Von wegen Liebling soll sich nicht gleich so aufregen. Liebling regte sich nicht auf, Liebling versuchte nur einen anständigen Drink zu bekommen, und wenn einer der drei Herren ihr dabei behilflich wäre, anstatt zwei alte Vasen anzustarren, dann müsste sie jetzt auch nicht ihre Stimme erheben.
    Was war an diesen blau-weißen Dingern mit Schlangen oder Drachen drauf nur so interessant? Tang hatte sie für viel Geld auf einer Auktion bei Sotheby’s in New York ersteigert. Kostbare Raritäten aus der Ming-Dynastie. Na und? War das ein Grund, gleich in Ehrfurcht zu erstarren? Sie beeindruckten Elizabeth Owen nicht, genauso wenig wie das Teeservice, der grüne Jadeschmuck und die seltsamen, auf Papierrollen gemalten Bilder, auf denen, außer Bambushainen, nichts zu erkennen war. Alles Jahrhunderte alt und angeblich ein kleines Vermögen wert, aber Tang konnte ihnen ja viel erzählen, und selbst wenn es stimmte, war es ihr egal. Warum in aller Welt interessierte Richard sich plötzlich dafür?
    Dieser Heuchler.
    Der Whiskey tat gut, auch wenn es kein amerikanischer, sondern nur ein alter schottischer war. Elizabeth fühlte sich ruhiger, aber gleichzeitig hellwach und stark. Ein paar Minuten gab sie sich und den Herren noch, dann würde Schluss sein mit dem Geschwätz über die Kunst des Kopierens alter Meister.
    Wo war der Kellner denn jetzt schon wieder? Sie wollte doch für den nächsten Drink nicht durch das ganze Haus rennen. Warum konnte er die Flasche nicht einfach auf den Tisch stellen?
    Elizabeth beobachtete ihren Mann und fand, dass er alt aussah und trotz seiner gebräunten Haut nicht mehr schön anzusehen war. Der Poster-Boy. Schwarm aller Mädchen auf dem College. Wo war der stattliche junge Mann geblieben, die Football-Legende an seiner High School und auf

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