Das Flüstern der Schatten
dieses Versprechen zwei Mal wiederholt, und er hatte ihr vertraut. Nun redete sie, redete, als würden sie die Gefahren, die sie damit für andere heraufbeschwor, nicht im Geringsten interessieren.
»Stimmt’s, Herr Leibovitz? Habe ich Recht?«
Alle Augen richteten sich plötzlich auf ihn. Paul knickte kurz mit den Beinen ein, als hätte ihm jemand von hinten in die Kniekehlen gedrückt, er versuchte gerade zu stehen, spannte mit aller Kraft die Oberschenkel an und hoffte, dass die anderen nichts bemerkt hatten.
»Herr Leibovitz! Um Gottes willen, sagen Sie etwas. Ich wiederhole nur, was Sie mir gestern berichtet haben. Wang Ming! Lotus Metal! Das Alibi! Das habe ich mir doch nicht ausgedacht. Das weiß ich alles von Ihnen! Warum schweigen Sie?«
Warum er schwieg? Weil er sie sonst geohrfeigt und angebrüllt hätte: Halten Sie verdammt noch mal Ihre Schnauze. Ich will kein Wort mehr hören, haben Sie verstanden! Kein Wort mehr, im Namen Ihres Sohnes. Wenn Sie so weiterreden, wird ein Unschuldiger zum Tode verurteilt werden.
Wenn Sie nicht sofort ruhig sind, werden wir nichts herausbekommen, überhaupt nichts.
Statt etwas zu sagen, blickte er an ihr vorbei, als höre er gar nicht, was sie sagt. Er konnte ihr jetzt nicht helfen, selbst wenn er gewollt hätte. So würden sie von Tang kein Wort erfahren.
Er hörte Victor Tang antworten, dessen Stimme nur gedämpft zu ihm herüberklang, obgleich er direkt neben ihm stand. Als säße er hinter einer Glasscheibe. Ich verstehe - Es tut mir furchtbar leid...der Verdächtige... ein Alibi... das Gericht entscheiden... wie in Amerika... das wird Ihnen Herr Leibovitz sicher gern bestätigen, oder nicht?
Paul senkte den Kopf und nickte. Er hatte jetzt nicht die Kraft, die anderen anzuschauen. Selten in seinem Leben hatte er sich so sehr geschämt. Elizabeth Owen ließ ihm keine Wahl. Wenn dieser Besuch überhaupt noch einen Sinn machen sollte, dann musste er sich von Victor Tang zum Komplizen machen lassen, ihm zustimmen, egal, was er sagte.
Er sah Elizabeth aus dem Haus stürmen, gefolgt von ihrem Mann. Victor Tang rief nach seinem Fahrer, und dann schloss er hinter sich die Tür.
Von einer Sekunde auf die andere herrschte Stille im Zimmer. Paul meinte, irgendwo ganz leise einen Fernseher zu hören, aber vielleicht täuschte er sich auch.
Die plötzliche Ruhe tat ihm gut. Er beobachtete die beiden Kellner, die den Streit, ohne eine Miene zu verziehen, verfolgt hatten und regungslos wie Puppen in einer Ecke standen. Er deutete ihnen, ihm noch ein Glas Champagner zu bringen, und setzte sich auf eines der Sofas vor dem Kamin. Er hatte keinen Moment gezögert, Tangs Einladung, auch ohne die Owens zum Essen zu bleiben, anzunehmen.
Er dachte kurz an Davids Warnung vor einer Falle, aber so sehr er auch in sich hineinhorchte, er verspürte keine Furcht. Victor Tang war eine imposante Erscheinung, aber er schüchterte ihn nicht ein, und die Abwesenheit der Owens machte die Sache eher leichter.
Paul schaute sich um: Neben ihm standen die kostbaren Ming-Vasen, und die beiden Kellner in ihren chinesischen Anzügen aus Seide verharrten wieder auf ihren Plätzen, in den Händen die Silbertabletts mit dem sündhaft teuren Champagner und Wein. Durch das Fenster sah er den gelben Ferrari in der Einfahrt. Er musste an die Nutten in Davids Haus und ihre zwei Dutzend rosa Schlüpfer denken, die sie zum Trocknen auf die Dachterrasse hängten. Die Schamlosigkeit, mit der dort, vor den Augen der Polizei, die Gesetze missachtet wurden, erinnerte ihn an die Schamlosigkeit, mit der Victor Tang seinen Reichtum zur Schau stellte, und wenn ihn in diesem Moment etwas beunruhigte, war es diese Schamlosigkeit. Prostituierte waren ihm in China auch früher begegnet, aber sie hatten ihr Geschäft immer dezent betrieben. Was ihn in Davids Straßenviertel so überrascht hatte, war die Offenheit, mit der dort gegen das Recht und die offizielle Propaganda verstoßen wurde. Was bedeutete es, wenn sich jetzt niemand mehr auch nur die geringste Mühe gab, wenigstens den Schein der Gesetzestreue zu wahren? Wo waren die Autoritäten, die dafür hätten sorgen können? Er hatte David nach dem Parteisekretär des Viertels gefragt und warum die Polizei nichts unternahm, und er hatte nur gelächelt und mit den Schultern gezuckt. Dieselben Fragen stellte er sich jetzt in diesem Wohnzimmer. Der Ferrari, der Mercedes 500, die Golfschläger aus Gold im Flur, diese pompöse Neobarock-Villa, der Champagner, es waren
Weitere Kostenlose Bücher