Das Flüstern der Schatten
Mindestens einen. Er hatte sie gebeten, es an diesem Abend bei einem Drink zu belassen. Auch wenn das, zugegeben, nicht leicht war. Am liebsten hätte er selbst sich betrunken - anders war die Anspannung kaum auszuhalten -, aber nicht heute, nicht an diesem Abend, wo schon ein falscher Satz, ein falsches Wort alles zerstören konnte, was ihm noch wichtig war im Leben. Er hatte seinen einzigen Sohn verloren, das war schlimm genug, er wollte nicht auch noch seine Frau und sein Unternehmen verlieren.
Richard schaute aus dem Fenster. Eines von Tangs Autos stand quer in der Einfahrt. Ein gelber Ferrari. Als er das letzte Mal mit Michael hier gewesen war, hatte da ein goldener Lamborghini gestanden, und Tang hatte ihnen erzählt, wie er diesen Sportwagen, den es serienmäßig in Gold nicht gab, von einer Werkstatt in Hongkong hatte auseinandernehmen, umspritzen und Teile des Motors vergolden lassen. Richard war begeistert gewesen - ein goldener Lamborghini! Er hatte sich sogar hinter das schwarze, kleine Lederlenkrad gezwängt und war ein paar imaginäre Kurven gefahren, worauf sein Sohn aber äußerst missmutig reagiert hatte.
Zumindest ein wenig Interesse an Tangs Sportwagen hätte er zeigen können. Höflichkeitshalber. Stattdessen hatte Michael gefragt, ob Tang eigentlich nie Angst habe, in Schwierigkeiten zu geraten, wenn er seinen Reichtum so öffentlich zur Schau stellte. Eine seltsame Frage, ausgerechnet von einem Amerikaner, da musste er Tang zustimmen, und einer dieser unzähligen Fälle, in denen er nicht die geringste Ahnung hatte, was in seinem Sohn vorging. Zum Glück hatte sich der Chinese nicht provozieren lassen, sondern lächelnd den Kopf geschüttelt und auf die Worte von Deng Xiaoping verwiesen: »Manche dürfen zuerst reich werden.«
So war Victor Tang. Nie um eine Antwort verlegen, und deshalb mochte Richard ihn. Mit seinem Witz und seiner Schlagfertigkeit konnte Michael nicht umgehen. Richard hatte manchmal das Gefühl, er war der Einzige in der Familie, der erkannte, was sie an Victor hatten.
Er spürte, wie sich, wenn er an Michael dachte, seine Trauer mit Wut mischte. Warum hatte er nicht dieses eine Mal auf seinen Vater hören können? Weshalb musste er sich nach einem neuen Partner umsehen, obwohl die Geschäfte mit Tang ausgezeichnet liefen? Sie verdienten so viel wie noch nie, und wenn Tang da etwas mehr für sich abzwackte, als ihm nach den Verträgen zustand, sei es drum, es blieb mehr als genug für sie. Richard konnte Michaels Empörung darüber nicht verstehen, zumal er die Veruntreuung nicht einmal beweisen konnte.
Metal Lotus!
Elizabeth war betrunken, wie viele Martinis hatte sie sich heimlich im Hotel hinuntergekippt? Konnte sich nicht mal mehr die Namen merken. Metal Lotus. Er spürte, wie ihm heiß wurde. Was würde Tang antworten? Ja, Frau Owen, Lotus Metal ist mir nur zu gut bekannt. Diese Firma ist ebenfalls ein Zulieferer in der Autoindustrie und ein Konkurrent von uns. Ein aufstrebendes Unternehmen mit viel Geld aus Peking, das Ihrem Sohn ein sehr attraktives Angebot gemacht hat. Glücklicherweise war Ihr Mann so klug und hat mich davon unterrichtet, so konnte ich verhindern, dass Michael diesen Verlockungen erliegt und versucht, auf meine Kosten und hinter meinem Rücken Geschäfte mit denen zu machen. Ja, Frau Owen, Sie haben richtig gehört, Ihr Mann hat mir davon erzählt.
Das wäre das Ende ihrer Ehe. Elizabeth würde das nie verstehen, und sie würde es ihm niemals verzeihen. Ausgerechnet er hatte es Tang verraten. Aber mit wem hätte er sich sonst beraten sollen? Mit ihr? Sehr gern, aber sie wollte von den geschäftlichen Dingen nie etwas wissen. Michael war kurz davor gewesen, eine phantastisch funktionierende Partnerschaft zu zerstören. Er wollte nicht auf den Rat seines Vaters hören, ach was, es ging nicht um Ratschläge, es war noch immer seine, Richards, Firma. Sein Sohn ignorierte also, wenn man es genau nahm, die Anordnungen seines Chefs, widersetzte sich täglich den Bitten, Anweisungen, Verfügungen aus Wisconsin, handelte im Namen der Familie Verträge aus mit Menschen, die Richard nicht einmal kannte. Wem hätte er sich anvertrauen, wen um Rat fragen sollen? Er vertraute Victor. Der war nicht nur ein kluger und seriöser Geschäftsmann, der gut rechnen konnte, sondern er war auch entscheidungsfreudig und schnell, wenn er etwas bewegen wollte. Richard sah in ihm jenes Feuer brennen, das ihn früher selbst angetrieben hatte. Deshalb hatte er ihm von
Weitere Kostenlose Bücher