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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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sorgfältig ausgewählte Symbole, Gesten und Zeichen, die jedem
    Gast sofort zu verstehen gaben, welchen Platz Victor Tang in der Hierarchie des heutigen Chinas einnahm. Aber ihre Symbolkraft reichte noch weit darüber hinaus, denn es handelte sich um nichts anderes als Diebesgut, das wusste jeder chinesische Besucher dieses Hauses, und auch ihm, Paul, konnte niemand erzählen, dass Tang seinen Reichtum ausschließlich auf legalem Weg geschaffen hatte. Dafür kannte er China zu gut. Was war das für eine Gesellschaft, in der die Räuber ihre Beute nicht versteckten, sondern voller Stolz ausstellten?
    Paul hörte Autotüren schlagen und das Knirschen eines Wagens, der langsam über einen Kiesweg rollt. Dennoch verstrichen noch einige Minuten, bis Victor Tang ins Haus zurückkehrte.
     
    »Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie so lange habe warten lassen, Herr Leibovitz. Ich habe versucht, die beiden ein wenig zu beruhigen.«
    »Mit Erfolg?«, fragte Paul.
    »Ich fürchte, nein. Frau Owen war sehr aufgebracht. Aber das ist ja auch mehr als verständlich nach allem, was passiert ist.« Tang setzte sich auf das gegenüberstehende Sofa und nickte einem der Kellner zu, der ihm sofort ein Glas Champagner brachte und Pauls nachfüllte. »Sind Sie eigentlich Amerikaner, wenn ich fragen darf?«
    »Ja. Ich bin in Deutschland geboren, aber in Amerika aufgewachsen.«
    »Wo?«
    »New York City.«
    »Großartig. Tolle Stadt. War häufig dort, als ich in Harvard studierte. Kennen Sie zufällig den Chongqing-Grill unten in Chinatown?«
    »Nein.«
    »Mottstreet, Ecke Bayard, wenn ich mich nicht irre.«
    »Nein, leider nicht.«
    »Die machen den besten Hotpot außerhalb Sichuans. Unglaublich. Oder dieses Dim-Sum-Restaurant auf dem East Broadway, wie heißt es noch gleich?« Tang trommelte mit den Fingern auf der Couchlehne und blickte an die Zimmerdecke, als würde dort der Name des Restaurants jeden Moment erscheinen.
    Paul hatte keine Ahnung, worauf sein Gastgeber hinauswollte. Dieser Mann gehörte nicht zu den Menschen, die einfach drauflosplauderten, aus seinem Mund kam kein unüberlegter Satz. Ein Amerikaner hätte ihn längst ins Kreuzverhör genommen, hätte wissen wollen, wer dieser Freund bei der Mordkommission ist, weshalb sie sich erdreisten, auf eigene Faust zu ermitteln, wo sich die Frau des Verdächtigen aufhält. Was wollte Tang von ihm? Ihn verwirren? Ablenken? Nervös machen? Oder folgte er nur der alten chinesischen Gesprächsstrategie, Konfrontationen möglichst zu vermeiden und erst kurz vor Ende einer Konversation und fast beiläufig die entscheidenden Dinge anzusprechen?
    »Egal, ich komm jetzt nicht drauf. Auf Ihr Wohl«, sagte Tang und erhob sein Glas.
    »Danke, auf das Ihre.«
    Sie tranken und schwiegen für einen Moment.
    »Die Owens haben mir berichtet, wie sehr Sie, Herr Leibovitz, ihnen in Hongkong behilflich waren, dafür möchte ich Ihnen danken. Aber über Sie persönlich habe ich nur wenig gehört. Ich weiß nicht einmal, was Sie in Hongkong machen.«
    Paul überlegte einen Augenblick. Er hatte den Owens so gut wie nichts von sich erzählt, sodass auch Tang in der Tat kaum etwas wissen konnte. »Ich manage zwei China-Investmentfonds. ›Hutch & Hutch‹ und ›Go Global‹«, antwortete er.
    »Wie interessant. Welche Art von Investitionen?«
    »Ausschließlich Risikokapital für chinesische Start-ups.«
    »In welchen Bereichen?«
    »Verschiedene, wir sind sehr diversifiziert.«
    »Irgendeinen Schwerpunkt?«
    »Ja, Lügendetektoren.«
    »Wie bitte?«
    »Wir finanzieren die Entwicklung eines ganz neuartigen Lügendetektors, an dem eine chinesische Firma in Shenyang arbeitet.« Paul sah, wie Tangs souveräne Gelassenheit einer offensichtlichen Irritation wich. Er hatte das oft erlebt in Gesprächen. Viele Chinesen konnten sein Alter ebenso schlecht einschätzen wie seinen Humor. Sie wussten nie genau, wann er einen Witz machte und wann nicht, und dasselbe Problem hatte nun Victor Tang. Er starrte Paul an und nickte unsicher.
    »Wir haben dort sehr viel Geld in ein Joint-Venture investiert, die ›Truth and Trust World Wide Cooperation‹, kurz ›TTWW‹«, fuhr Paul in ernstem Ton fort. Es bedurfte seiner ganzen Selbstbeherrschung, um ein Lächeln zu unterdrücken. Er ahnte, was jetzt geschehen würde. Tang konnte nicht zugeben, dass er verunsichert war. Die Frage, ob Paul ihn auf den Arm nahm, käme einem Gesichtsverlust gleich, er musste versuchen, es im weiteren Verlauf des Gesprächs selbst

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