Das Flüstern der Schatten
liebsten hätte sie sich auf ihn gestürzt, ihm ins Gesicht geschlagen, an den Haaren gezogen, ihn getreten und geboxt. Er nickte. Wie konnte er das wagen nach allem, was er ihr gestern im Hotel über erzwungene Geständnisse in chinesischen Gefängnissen gesagt hatte? Auf wessen Seite stand er?
Sie leerte ihr Glas in einem Zug. »Ich will sofort zurück ins Hotel.«
»Aber Frau Owen...«
»Kein Wort mehr«, unterbrach Elizabeth den beschwichtigenden Gastgeber. »Ich will gehen, und zwar auf der Stelle. Rufen Sie mir ein Taxi.«
»Sie brauchen kein Taxi. Ich werde selbstverständlich meinem Fahrer Bescheid sagen. Er hätte Sie später ohnehin wieder nach Hongkong gebracht und wartet draußen«, sagte Tang und trat vor die Tür.
Elizabeth Owen nahm ihre Handtasche vom Stuhl und blickte ihren Mann an. In diesem Moment erinnerte er sie an ihren Vater. Wie hatte sie bloß so einen Schwächling heiraten können?
Richard stellte sein Glas ab und machte Anstalten, sie zu begleiten. Sie hatte keine Ahnung, wie sie seine Nähe ertragen sollte.
XXVI
Fünfzigtausend amerikanische Dollar. Pro Stück. Zusammen hunderttausend Dollar plus Steuern und Auktionsgebühren. Das war verdammt viel Geld für zwei Vasen. Weit mehr, als er im Frühjahr für die Vergrößerung und Renovierung ihres Swimmingpools im Garten bezahlt hatte. Richard Owen betrachtete die beiden Gefäße gründlich von allen Seiten und konnte beim besten Willen nichts entdecken, was diesen Preis rechtfertigen würde. Er sah keinen Unterschied zu den Kopien, die in der Lobby ihres Hotels in Hongkong standen. Für ihn handelte es sich um zwei weiße, bauchige Vasen mit einem blauen Muster drauf, und er fragte sich, warum ein kluger Geschäftsmann wie Victor Tang dafür so viel Geld ausgeben konnte, selbst wenn sie über fünfhundert Jahre alte Raritäten aus der Blütezeit der Ming-Dynastie waren. Sie stammten aus der Sammlung Zuckerman, eines amerikanischen Textilfabrikanten, der in den neunziger Jahren sein Vermögen verloren hatte, weil er seine Hemden und Anzüge nicht in China fertigen lassen wollte. Richard lachte laut auf. Wenn das stimmte, was Victor da behauptete, war es eine wunderbare Geschichte für die Zweifler in Wisconsin. Dort gab es immer noch Idioten, die von China nichts wissen wollten und seine Entscheidung, die Produktion zu verlagern, kritisierten. Die Anekdote gefiel Richard so gut, dass er sie auf der nächsten Jahrestagung der Handelskammer in Milwaukee erzählen wollte. Als Warnung an alle Zuckermans, die dort noch saßen.
Warum gesellte sich Elizabeth nicht zu ihnen, anstatt unruhig durch das Zimmer zu wandern und ihn die ganze Zeit aus den Augenwinkeln verächtlich anzuschauen. Er sah ihr an, was sie dachte. Du Heuchler! Tu doch nicht so, als wenn du die Song-, Ming- und Qing-Dynastien auseinanderhalten könntest. Sie hatte sich schon häufiger über sein Interesse an chinesischer Geschichte lustig gemacht, und sie wollte ihm nicht glauben, dass es nicht vorgetäuscht, sondern echt war, dass er die China-Bücher, die auf seinem Schreibtisch lagen, auch las. Zumindest las er sie quer. Glaubte sie wirklich, er würde ihr ganzes Vermögen in einem Land investieren, von dem er kaum etwas wusste? Mit den wichtigsten Daten und Fakten - Kriege, Eroberungen, Revolten und Kaiserhäuser - wollte er sich vertraut machen, auch wenn er sie zuweilen vergaß oder durcheinanderbrachte. Das war kein Grund, sich über ihn lustig zu machen. Und heute könnte er Victors Ausführungen über die Mings und den Dings den ganzen Abend zuhören. Sie lenkten ihn ab. Solange Tang dozierte, konnten Elizabeth und dieser Leibovitz kein Unheil anrichten, solange er, Richard, Tangs Worten folgte, musste er an nichts anderes denken. Warum hatten sie diese Einladung überhaupt angenommen? Wäre es nach ihm gegangen, hätten sie dankend abgelehnt, aber davon wollte Elizabeth nichts wissen. Was führte sie im Schilde? Und was war in Tang gefahren? Weshalb hatte er sie eingeladen? Richard fühlte sich wie in einem Spiel, dessen Regeln er nicht verstand.
Worüber regte sich Elizabeth nun schon wieder auf? Was konnte denn der arme Kellner dafür, dass sie weder Champagner noch Rotwein mochte? Sobald Elizabeth etwas getrunken hatte, wurde ihre Stimme schrill, fast hysterisch und furchtbar ordinär, er hasste das. Er hätte sie im Hotel nicht aus den Augen lassen dürfen, aber während er noch duschte, war sie vorgegangen und hatte an der Bar einen Martini getrunken.
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