Das Flüstern der Schatten
so gut wie bei seinem Freund. Paul nickte anerkennend.
»Ihre Idee mit dem Lügendetektor war nicht nur sehr amüsant«, sagte Tang, »je länger ich darüber nachdenke, umso interessanter finde ich sie. Nehmen wir mal an, dieses Gerät stünde kurz vor der Markteinführung. Glauben Sie tatsächlich, es hätte eine Chance?«
»Warum nicht?«
»Lassen wir uns nicht alle gern ab und zu belügen?«
»Sie vielleicht. Ich nicht«, erwiderte Paul mit halb vollem Mund und erschrak im nächsten Moment über seine Antwort. Sie hatte leicht, mehr wie ein kleiner Scherz klingen sollen, aber seiner Stimme fehlte jeder Witz, jede Ironie, sodass es sich forsch, fast aggressiv angehört hatte. Aber eine Konfrontation wollte er jetzt nicht. Noch nicht.
»Nehmen wir einmal an, Sie besäßen dieses Gerät jetzt, was würden Sie mich fragen?«, erwiderte Tang so freundlich, als habe er den Unterton nicht wahrgenommen.
Paul überlegte kurz: »Worüber Sie sich mit Michael Owen kurz vor seinem Tod gestritten haben.«
»Wer sagt Ihnen, dass wir uns gestritten haben?«
»Ich habe in Michaels Computer einen Brief an Sie gefunden.«
»Wir hatten eine Auseinandersetzung um die zukünftige Strategie unseres Unternehmens.«
»Warum sind Sie dabei so beleidigend und ausfallend geworden?«
»Bin ich das?«
»Michael hat Sie ultimativ aufgefordert, sich zu entschuldigen.«
»Möglich«, antwortete Tang knapp.
Dieses Gespräch wurde mit jedem Satz ernster.
»Was wussten Sie von Michaels Verhandlungen mit Lotus Metal und seinen Gesprächen mit Wang Ming?«
Tang antwortete mit einer Gegenfrage: »Für wen arbeiten Sie?«
»Für niemanden.«
»Haben die Owens Sie beauftragt?«, fragte er mit scharfer, fordernder Stimme. Dieser Mann war es nicht gewohnt, auf Widerspruch zu stoßen, das hörte Paul deutlich.
»Nein«, antwortete er so gelassen wie möglich.
»Wer bezahlt Sie?«
»Ich bekomme kein Geld.«
»Worum geht es Ihnen dann?«
»Um die Wahrheit«, erwiderte Paul und hoffte, dass es nicht zu pathetisch geklungen hatte.
Victor Tang wiegte den Kopf hin und her, nahm ein Stück Huhn, zog es einmal behutsam durch die Chilisauce und ließ es anschließend in seinem Mund verschwinden. Er wischte sich mit einer Serviette die Lippen ab und hob sein Glas: »Auf die Wahrheit«, sagte er und klang dabei plötzlich wieder so jovial, fast spielerisch, wie zu Beginn ihres Gesprächs. Paul hatte noch nie jemanden erlebt, der so abrupt den Ton wechseln und damit sein Gegenüber verunsichern konnte.
»Sind Sie sicher, dass Sie wirklich immer die Wahrheit wissen möchten?«, fragte Tang, nachdem er getrunken hatte.
Paul überlegte. Er wollte sich von Tang nicht einschüchtern lassen und nahm sich mehr Zeit als nötig für seine Antwort. Nicht schwindeln, Papa, sag die Wahrheit. »Ich glaube schon.«
»Sie glauben schon?«, wiederholte Tang und wirkte dabei ein wenig enttäuscht. »Bei so einer wichtigen Frage sollten Sie sich ganz sicher sein.«
»Da haben Sie Recht. Ich korrigiere mich und antworte mit einem eindeutigen Ja!«
»So richtig überzeugend klingt das noch nicht. Denken Sie daran: Die Wahrheit kann sehr bedrohlich sein«, sagte Tang mit einem fast diabolischen Lächeln. Jetzt war es an ihm, Paul im Unklaren darüber zu lassen, wie ernst er meinte, was er sagte.
»Ich weiß«, antwortete Paul ausweichend.
»Schon die Suche nach der Wahrheit birgt in manchen Fällen große Gefahren.«
Paul war nicht sicher, ob sie über die Wahrheit im Allgemeinen philosophierten oder über den Fall Michael Owen sprachen. »Lassen Sie es mich so ausdrücken: Ich möchte in jedem Fall die Wahrheit wissen. Ich weiß nicht, ob ich immer die Kraft habe, sie zu ertragen.«
Tang legte seine Essstäbchen zur Seite und schaute ihm direkt in die Augen. Die beiden Kellner standen wie zu Stein erstarrt an ihren Plätzen. Es war so still, dass Paul das sanfte, kaum wahrnehmbare Lodern der Kerzenflammen hörte.
»Herr Leibovitz«, begann Tang und sprach dabei leise, fast flüsternd, dass sich Paul nach vorn beugen musste, um ihn zu verstehen. »Was machen Sie, wenn Ihnen die Wahrheit zu viel wird? Wenn Sie plötzlich feststellen, dass Sie nicht die Kraft haben, sie zu ertragen? Dann geben Sie sie zurück?«
Paul schüttelte den Kopf und spürte gleichzeitig eine leichte Unsicherheit in sich aufsteigen. Hatte er sich so schlecht ausgedrückt, oder wollte Tang ihn missverstehen? »An wen sollte ich...«
»Ganz richtig«, unterbrach ihn Tang sofort.
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