Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
Vom Netzwerk:
verspürt als jetzt nach Christine. Weshalb war er nicht bei ihr? Er fühlte sich schwach und hilflos und hoffte nur, dass Tang dies nicht bemerkte. Er liebte Christine. Warum hatte er sich so lange dagegen gewehrt? Er liebte sie. Er liebte sie mit allem, was er ihr zu geben hatte.
    Tang gab sich nicht die Mühe, seine Freude über die gelungene Überraschung zu verbergen, im Gegenteil, er genoss jeden Satz, mit dem er Paul mehr verunsichern konnte. Der süße Klang des Triumphes in seiner Stimme. Paul wollte ihm etwas entgegensetzen, aber was? Was war stärker als ein solcher Verrat an einem Freund?
    »Glauben Sie mir nicht?«, fragte Tang, der sich offenbar über das Schweigen seines Gegenübers wunderte.
    »Doch, jedes Wort.« Paul war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. »Aber es ändert nichts.« Er hatte über diesen Satz nicht nachgedacht, er war ihm so herausgerutscht. Hatte er das nur aus Trotz gesagt, weil er Tang seinen billigen Triumph nicht gönnte? Wollte er sich schützen, weil er anders diesen Vertrauensbruch nicht ertragen hätte? Oder hielt ihre Freundschaft das wirklich aus?
    »Wie meinen Sie das?« Tang blickte ihn dabei prüfend an.
    »So wie ich es sage«, behauptete Paul tapfer. »Es ändert nichts. Nichts an meiner Freundschaft. Nichts an meinem Glauben an David. Nichts an dem Vertrauen, das ich in ihn habe. Nichts an meiner Zuneigung.«
    Tang lachte kalt und laut, fast hysterisch. »Sie sind kein Romantiker, ich habe mich in Ihnen getäuscht. Sie sind ein jämmerlicher Angsthase. Sie erfahren eine Wahrheit und sind zu feige, daraus Konsequenzen zu ziehen.«
    Paul fehlte die Kraft, sich zu wehren. Er wollte widersprechen, er wünschte, dass es genau so war, wie er es gerade bekauptete, aber es gab auch eine zweite Stimme in ihm, und die wollte nicht verstummen. Fortwährend flüsterte sie ihm ein, dass Tang nicht Unrecht hatte. An welchem Punkt verwandelt sich Vertrauen in dümmliche Leichtgläubigkeit, Loyalität in kindlichen Trotz? »David wird seine Gründe gehabt haben, mir diese Geschichte zu verschweigen«, entgegnete er matt.
    »Natürlich hatte er seine Gründe«, höhnte Tang. »Wir alle haben unsere Gründe, wenn wir lügen.«
    Paul starrte in die Kerzen auf dem Tisch. Der Druck in den Augen war unerträglich geworden, er würde seine Tränen nicht mehr lange zurückhalten können. »Bitte entschuldigen Sie mich, ich muss einmal Ihre Toilette benutzen.«
    »Gehen Sie ruhig«, sagte Tang mit verächtlicher Stimme.
    »Sie müssen in den ersten Stock. Die beiden hier unten funktionieren nicht.«
    Als er sich erhob, spürte Paul kaum seine Beine. Er fühlte sich so schwach, als hätte er wochenlang im Bett gelegen. Mit tastenden Schritten durchquerte er den Esssaal und die Eingangshalle und stieg langsam, sich fest an das goldglänzende Geländer klammernd, die geschwungene Marmortreppe hinauf.
    Tang hatte ihm nicht gesagt, ob er oben nach links oder rechts gehen, welche der vielen Türen er öffnen sollte. Die erste rechts war es nicht, dahinter verbarg sich ein leeres Zimmer ohne Möbel. Die zweite führte in ein geräumiges Bad ohne Toilette. Bei der dritten bemerkte Paul erst, nachdem er sie geöffnet hatte, dass es unmöglich die Toilette sein konnte. In dem Raum lief ein Fernseher. Davor stand ein Bett. Darauf lag Anyi.
    Sie schaute ihn so entsetzt an, als wäre er ein Auftragskiller, der gekommen war, um sie zum Schweigen zu bringen.
    »Was machen Sie denn hier?«, stammelte Paul.
    »Hauen Sie ab! Machen Sie sofort die Tür wieder zu«, fauchte sie ihn mit gepresster Stimme an.
    Paul schloss die Tür von innen.
    »Sind Sie wahnsinnig? Tang wird uns beide umbringen, wenn er uns zusammen sieht.«
    »Was machen Sie hier?«, wiederholte Paul.
    »Gehen Sie! Sofort. Bitte.« Ihre Wut hatte sich in ein Flehen verwandelt.
    Paul erschrak über die Angst in ihrem Gesicht. »Seit wann sind Sie hier?«
    Anyi antwortete ihm nicht.
    »Warum haben Sie so eine Angst?«
    »Wenn Sie nicht sofort gehen, schreie ich um Hilfe«, drohte sie.
    »Was haben Sie mit dem Mord an Michael zu tun?«
    »Herr Leibovitz.« Tangs Stimme drang aus dem Esszimmer zu ihnen herauf.
    Anyi erstarrte auf ihrem Bett.
    »Ich habe vergessen, Ihnen zu sagen, wo die Toilette ist«, rief er. »Die zweite Tür links.«
    Paul öffnete die Tür einen Spalt, antwortete laut »Danke« und schloss sie wieder.
    »Gehen Sie. Gehen Sie«, flüsterte Anyi.
    »Nicht, bevor Sie mir meine Frage beantwortet haben.«
    »Damit

Weitere Kostenlose Bücher