Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
Vom Netzwerk:
waren gesät.
    »Das ändert nichts«, hatte er tapfer behauptet, aber je länger Paul darüber nachdachte, umso schlimmer wurde es. Er wollte sich gegen das Misstrauen und den Argwohn stemmen und spürte doch, dass er dazu im Augenblick zu schwach oder diese Gefühle zu stark waren, ja, dass sie wuchsen, dass sie sich, wie Eifersucht und Verfolgungswahn, irgendwann aus sich selbst heraus ernährten. Warum hatte sein Freund so lange verschwiegen, dass er Tang von früher kannte? Was verheimlichte er ihm noch alles? Fragen, die sich nun in seinem Kopf einnisteten und seine Gedanken beherrschten.
    »Verlorenes Vertrauen kehrt nicht zurück«, war einer der Sätze des Konfuzius, die Paul in Erinnerung geblieben waren.
    Plötzlich hörte er ein Motorengeräusch in seinem Rücken und drehte sich um. Wenige Meter hinter ihm blieb ein dunkler Audi stehen, in dem vier Männer saßen und ihn anstarrten. Er wollte die Straßenseite wechseln, aber von vorn raste ein zweiter Wagen mit hoher Geschwindigkeit auf ihn zu. Paul erstarrte vor Angst, der Wagen machte eine scharfe Kurve, fuhr mit einem dumpfen Schlag auf den Bürgersteig und kam direkt vor ihm zum Stehen. Die Türen flogen auf, mehrere junge Männer in Anzügen stiegen aus und hatten ihn innerhalb weniger Sekunden umstellt. Paul schaute nach links und rechts und begriff, dass er weder weglaufen noch sich zur Wehr setzen oder nach Hilfe rufen konnte. Einer der Männer forderte ihn in grobem Mandarin auf, sich sofort in den Audi zu setzen, er solle keine Tricks versuchen, je bereitwilliger er kooperiere, umso weniger Gewalt müssten sie anwenden.
    Paul ging zum Wagen und setzte sich in den Fond. Zwei kräftige, muskulöse Chinesen nahmen ihn in ihre Mitte, und der Fahrer startete durch, während einer der Männer Paul blitzschnell die Augen verband. Er spürte einen scharfen Geruch in seiner Nase und dachte an Christine. Dann verlor er das Bewusstsein.

XXX
    Es war ein stechender Schmerz im Kopf, von dem Paul erwachte. Eine Verspannung, die sich vom Nacken über den Hinterkopf und die Stirn bis ins Gesicht zog und ihn an die Migräneanfälle erinnerte, die ihn während Justins Krankheit gelegentlich überkommen und jedes Mal gezwungen hatten, ein oder auch zwei Tage im abgedunkelten Schlafzimmer zu verbringen. Justin hatte sich dann nach der Schule oft zu ihm gelegt und ihm etwas erzählt oder vorgesungen, und Paul hatte nicht das Herz gehabt, seinem Sohn zu sagen, dass selbst dessen helle Kinderstimme eine Pein war, und hörte zu, bis sie zusammen einschliefen.
    Paul musste schlucken, Mund und Kehle waren völlig ausgetrocknet. Vorsichtig öffnete er die Augen, grelles Licht würde die Schmerzen nur noch schlimmer machen. Der Raum, in dem er lag, war in ein dämmeriges Halbdunkel getaucht. Wo befand er sich? Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder an die dunkle Allee erinnerte, an die beiden Autos, die Männer und den Augenverband, der nach einem süßlichen Parfüm gestunken hatte. Da konnte nur Tang dahinterstecken. Er hatte ihm nicht umsonst einen äußerst unangenehmen Spaziergang prophezeit.
    »Was wissen Sie noch?«, hatte Tang während des Abendessens fast beiläufig gefragt. »Darauf erwarten Sie jetzt keine Antwort«, hatte Paul leicht, fast scherzhaft erwidert und die Vorstellung genossen, sein Gastgeber fürchtete, dass er, Paul, noch über weitere Informationen verfügte, die Tang belasteten. Vielleicht war das ein Fehler gewesen, vielleicht hätte er schlicht die Wahrheit sagen sollen: Nichts. Ich weiß nicht mehr, als ich Ihnen gesagt habe. Diese Blöße hatte er sich gestern Abend nicht geben wollen. Würde Tang ihm dieses ›Nichts‹ jetzt noch glauben? Christine hatte Recht mit ihrer Angst - er war bodenlos leichtsinnig gewesen.
    Paul versuchte sich aufzurichten und stöhnte laut. Bei jeder Bewegung spürte er, wie sein Puls heftig in den Schläfen pochte. Ohne Tabletten war dieser Schmerz nicht lange auszuhalten. Ihm war übel, und er fürchtete, sich jeden Augenblick übergeben zu müssen. Er blickte sich um, es gab keine Toilette und keinen Eimer im Zimmer, nur ein Waschbecken, wenn er dort hineinkotzte, würde der säuerliche Gestank des Erbrochenen das ganze Zimmer verpesten. Er atmete mehrmals tief ein und aus, das half ein wenig gegen den Brechreiz.
    Sein Bett war eine Art Pritsche mit einer dünnen, unangenehm harten Matratze, auf der er kaum liegen konnte. Paul stand langsam, mit bedächtigen Bewegungen auf, er trug immer noch den Anzug von

Weitere Kostenlose Bücher