Das Flüstern der Schatten
die Wahrheit ließ sich nach Belieben biegen und verformen, notfalls sogar völlig auseinandernehmen und gänzlich neu zusammensetzen, vorausgesetzt natürlich, man war einer von denen, die Befehle erteilten und nicht empfingen, die aufrecht standen, die traten und spuckten und nicht einer von denen, die hilflos im Dreck lagen. Zu Letzteren, das hatte sich Victor Tang vor langer Zeit geschworen, würde er nie gehören. Niemals! Und wenn ihn daran manchmal Zweifel beschlichen, musste er sich nur umschauen oder aus dem Fenster blicken. Der Ferrari vor der Tür, diese Villa, der Dom Perignon in seinem Glas: Die Bedeutung dieser Luxusgüter lag für Tang darin, dass sie ihm immer wieder aufs Neue versicherten, dass er zu denen gehörte, die aufrecht standen. Zu denen, die die Wahrheit formen konnten. Diese Luxusgüter waren weit mehr als teure Spielzeuge oder Statussymbole, sie waren ein Teil seines Schutzes gegen die Angst vor der Willkür. Wenn er aus dem Schicksal seiner Familie etwas gelernt hatte, dann die Einsicht, dass in seinem Land alles möglich war, dass es nichts auf der Welt gab, worauf man sich verlassen konnte. Jedes Gefühl der Sicherheit war eine Illusion. Die Anarchie konnte schon hinter der nächsten Ecke lauern und die Macht übernehmen und alles zerstören.
Warum fiel ihm diese Geschichte gerade jetzt ein? Es war lange her, dass er so intensiv an seinen Vater gedacht hatte, er konnte sich nicht erinnern, wann ihm dieser Nachmittag im Sommer 1966 zuletzt so deutlich vor Augen gewesen war. Die Erinnerung hatte ihn aufgewühlt, und das war ihm unangenehm. Erregte Menschen machen Fehler. Sein Gast hingegen saß ihm ohne offensichtliche Regung gegenüber, wenn Victor sein Gefühl nicht täuschte, ließ sich dieser Leibovitz weder von Drohungen noch Symbolen des Reichtums besonders beeindrucken. Die Idee mit dem Lügendetektor war eine geniale List gewesen, und es war Tang außerordentlich unangenehm, dass er anfänglich darauf hereingefallen war. Leibovitz saß vor ihm, hörte sehr aufmerksam zu, aber seine Augen verrieten keine Furcht, das hatte er mit Michael Owen gemein. Der hatte auch nie begriffen, mit wem er es zu tun hatte.
Tang spürte, wie ihm heiß wurde. Lag es an den vielen Kerzen, oder funktionierte die Klimaanlage nicht richtig? Vielleicht, dachte er, war es gar keine schlechte Idee, Paul die Geschichte seines Vaters zu erzählen. Es konnte nicht schaden, wenn sein Gegenüber wusste, woher er, Victor, kam, vielleicht würde er dann verstehen, dass es um viel mehr ging als um ein paar halb fertige Verträge zwischen Michael Owen und einer anderen Firma. Ihr gemeinsames Unternehmen, Cathay Heavy Metal, war eine Goldgrube, die dank des Hungers der Chinesen nach Autos mit jedem Monat kräftiger sprudelte und die er sich von niemandem zerstören lassen würde, um keinen Preis.
Und so begann Tang seine Geschichte zu erzählen.
Als er sie beendet hatte, herrschte ein langes Schweigen im Raum. Paul Leibovitz hatte ebenfalls seine Stäbchen zur Seite gelegt und war dem Bericht nachdenklich gefolgt. Jetzt räusperte er sich: »Das tut mir leid für Sie und Ihre Familie.«
»Das muss Ihnen nicht leid tun. Wir sind ja alles andere als ein tragischer Einzelfall. Fragen Sie andere Chinesen in meinem Alter, und Sie werden ähnliche Geschichten hören.«
»Das stimmt, und trotzdem tut es mir leid. Ich frage mich, warum Sie mir das alles erzählt haben?«
»Mit Sicherheit nicht, um Ihr Mitleid zu erregen. Aber vielleicht, damit Sie mich besser verstehen?«
»Oder damit ich aufhöre, nach der Wahrheit zu suchen, weil es die Wahrheit angeblich nicht gibt?«
»Auch deshalb, ja.«
»Das habe ich vermutet, und ich sage Ihnen: Sie täuschen sich. Im Fall Ihres Vaters gab es eine Wahrheit, er war unschuldig, und im Mordfall Michael Owen gibt es auch eine: Der Mann, der in Haft sitzt, ist ebenfalls unschuldig. Der Täter läuft noch frei herum.«
Tang atmete tief durch. Er musste sich beherrschen, seine Wut nicht zu deutlich zu zeigen. Wollte dieser Mann ihn nicht verstehen, oder führte er ihn an der Nase herum?
»Darum geht es nicht, Herr Leibovitz, warum begreifen Sie das nicht? Es geht um die Frage, wer festlegt, was die Wahrheit ist, und in diesem Fall ist das bereits geschehen. Der Mann ist schuldig, das ist schon entschieden. Morgen findet sein Prozess statt. Er wird verurteilt und hingerichtet. Wer das verhindern will, begibt sich in Gefahr. In dieser Beziehung hat sich in diesem Land nicht viel
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