Das Flüstern der Schatten
geändert.«
»Wollen Sie mir Angst machen?«
»Wie kommen Sie denn darauf?«, entgegnete Tang, bemüht, genau den scheinheiligen Ton zu treffen, der Paul im Unklaren darüber lassen sollte, wie es gemeint war. »Ich möchte Sie nur warnen. Sie und Ihren Freund, den Kommissar. Der Leiter der Mordkommission, Lo, ist ein Freund von mir. Ich fürchte, er wird nicht sehr begeistert sein, wenn er erfährt, dass einer seiner Leute sich seinen Anweisungen widersetzt. Nicht nur Sie gehen ein großes Risiko ein, sondern auch Ihr Freund, wie hieß er noch gleich? Zhang, richtig?«
Paul schaute ihn an, ohne zu antworten.
»In Sichuan kannte ich...«
»Ich weiß«, unterbrach Paul ihn sofort, »Sie und mein Freund Zhang kennen sich von früher. Er hat es mir erzählt.«
Ganz langsam weiteressen, dachte Tang. Nichts anmerken lassen, ein Stück von der geräucherten Ente nehmen, aufpassen, dass es bloß nicht von den Essstäbchen rutscht, ruhig zum Mund führen, nicht zittern, gemächlich kauen, etwas trinken. Wie lange war es her? Wann verjährt ein Mord? Wusste dieser Leibovitz davon? Tang konnte sich nicht vorstellen, dass Zhang jemandem von ihrem Nachmittag im Kloster erzählt hatte. Zhang hatte ihn damals nicht verraten, warum sollte er ausgerechnet einem Ausländer gegenüber sein Schweigen brechen?
»Und wie lange kennen Sie ihn schon?«
»Über zwanzig Jahre.«
»Oh, wie ungewöhnlich«, antwortete Tang und versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. »Was hat er Ihnen von mir erzählt? Ich hoffe, nur Positives.«
»Nicht viel. Es ist lange her, dass Sie sich begegnet sind.«
Tang hatte keine Ahnung, ob er glauben konnte, was Paul sagte, der sein schauspielerisches Talent schon zu eindrucksvoll bewiesen hatte. »Ich weiß gar nicht, wann ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Es wäre sicher interessant, ihn einmal wieder zu treffen.«
»Da habe ich meine Zweifel. Zumindest was die Wahrheit betrifft, haben Sie beide sehr unterschiedliche Auffassungen.«
»Sind Sie sich da ganz sicher?«, fragte Victor Tang.
»Ja. David lügt nicht. Ich vertraue ihm blind.«
»Das ist immer ein Fehler.«
»Sie sind ein Zyniker. Ich kenne David schon lange, er hätte keinen Grund, mich zu belügen. Es gibt keinen Menschen, dem ich mehr vertraue. Außerdem glaube ich fest, dass wir am Ende gar keine andere Wahl haben, als zu vertrauen.«
»Sie sind ein Träumer. Ich bin genau von dem Gegenteil überzeugt: Wir haben keine Wahl, als zu misstrauen.«
»David hat mir noch nie einen Anlass gegeben, ihm zu misstrauen.«
»Er ist Chinese.«
Paul lachte überrascht. »Na und? Sie wollen mir doch nicht sagen, dass ich keinem Chinesen trauen kann?«
»Ich tue es nicht. Zumindest keinem aus meiner Generation.«
»Sie sind verrückt. Das ist absurd.«
»Haben Sie eben nicht richtig zugehört? Ich habe Ihnen doch keine Märchen erzählt!« Er musste seine Stimme zügeln. Paul Leibovitz war kein Mensch, den man anbrüllte.
»Das weiß ich«, antwortete Paul ruhig.
»Dann muss ich Ihnen doch nicht erklären, wie oft in den vergangenen Jahren eine Wahrheit zur Lüge erklärt wurde und eine Lüge zur Wahrheit. Wie viele Kinder ihre Eltern verraten haben. Wie viele Schüler ihre Lehrer. Wie viele ›beste‹ Freunde sich gegenseitig denunzierten. Muss man das selbst erlebt haben, um es glauben zu können?«
»Nein, aber die Kulturrevolution ist vor dreißig Jahren zu Ende gegangen.«
»Na und. Was sind dreißig Jahre? Nicht einmal ein halbes Menschenleben. Wer diese Säuberungen damals erlebt hat, wird sie nie in seinem Leben vergessen. Nie. Hören Sie: Nie! Wer einmal seinen Vater...« Tang unterbrach sich selbst.
Auch Paul schwieg für einen Moment. »Ich verstehe...«
»Sie verstehen gar nichts«, fuhr Tang dazwischen. Er konnte kaum mehr verbergen, wie aufgebracht er war. Die Erinnerungen hatten ihn mit einer Wucht gepackt, die er nicht für möglich gehalten hätte.
»Ich versuche zu verstehen«, fuhr Paul unbeirrt fort.
»Aber in den vergangenen dreißig Jahren ist in China viel passiert.«
»Das ist mir auch schon aufgefallen. Die Häuser werden höher und die Straßen breiter.«
»Das meinen Sie nicht im Ernst?«
»Natürlich nicht, aber dieses Land erfindet sich nicht neu. Das können nur Amerikaner glauben. Wir haben alle etwas zu verbergen, Ihr Freund bildet da keine Ausnahme. Und wer etwas zu verbergen hat, dem würde ich nicht trauen.«
»Es gibt nichts, was mein Freund vor mir verbergen müsste.
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