Das Flüstern der Schatten
täuschen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Verraten Sie mir mal, woher Sie die Geschichte mit dem Alibi des Täters haben?«, fragte Tang.
»Von der Frau des Mannes, den Sie haben einsperren lassen. Das hat Ihnen Frau Owen doch schon gesagt.«
»Haben Sie mit ihr gesprochen?«
»Nein. Mein Freund Zhang.«
»Waren Sie dabei?«
»Nein, David hat es mir erzählt.«
»So, er hat es Ihnen erzählt.«
»Was ist daran so bemerkenswert?«
»Sind Sie immer noch überzeugt davon, dass alles stimmt, was Zhang Ihnen sagt?«
Paul verstand, worauf Tang hinauswollte, und widersprach sofort: »Selbstverständlich, warum nicht?« Mochte sein Gastgeber ihn für naiv oder dämlich halten, aber von seinen Zweifeln an Davids Redlichkeit würde Tang nichts erfahren.
»›Nur die ganz Weisen und die ganz Dummen ändern ihre Meinung nie‹, sagt ein altes chinesisches Sprichwort. Was gibt Ihnen diese Gewissheit? Vielleicht habe ich David Zhang nicht vor dreißig Jahren zuletzt gesehen, sondern vor zwei Tagen. Vielleicht hat er die Seiten gewechselt, ohne dass Sie es gemerkt haben?«
Jetzt reichte es. Paul erhob sich ruckartig, als wolle er über den Tisch greifen und Tang am Kragen packen. Dabei kippte sein Stuhl nach hinten und fiel laut zu Boden.
»Das ist lächerlich«, rief Paul und wurde zum ersten Mal an diesem Abend laut.
»Wenn Sie sich so sicher sind, warum regen Sie sich dann so auf?«
Paul wollte mit diesem Menschen nichts mehr zu tun haben, er war ihm, das musste er nun zugeben, nicht gewachsen.
»Ich werde jetzt gehen.«
»Tun Sie das. Ich halte Sie nicht auf. Sie werden mit Ihrem Wissen nicht weit kommen.«
»Sie drohen mir schon wieder.«
»Ich drohe Ihnen nicht. Ich sage nur, wie es ist. Überschätzen Sie sich nicht: Auch wenn die Biene einen gestreiften Rücken hat, ist sie noch lange kein Tiger.«
»Noch eine chinesische Weisheit?«
»Und keine dumme. Darf mein Fahrer Sie irgendwo hinbringen?«
»Nein, danke.« Glaubte Tang wirklich, er würde sich nach diesem Gespräch in sein Auto setzen und sich dessen Fahrer anvertrauen?
»Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?«
Auch das konnte eine Falle sein. Paul dachte an Davids Warnungen und hielt jetzt alles für möglich. Er wollte nur raus hier, auf die Straße, dort wird er mit Sicherheit selbst schnell ein Taxi finden.
»Nein, ich gehe lieber zu Fuß.«
»Wie Sie wünschen. Von hier zur Fähre oder zur nächsten Bahnstation ist es ein weiter Weg, und es wird kein angenehmer Spaziergang werden, das versichere ich Ihnen.«
Paul schritt durch das Esszimmer und in die Empfangshalle zur Haustür. Dort drehte er sich noch einmal um. Tang war ihm gefolgt und blickte ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Mitleid an.
»Sie begehen einen Fehler, Herr Leibovitz.«
Paul fiel keine passende Antwort ein, er öffnete die Tür und verschwand wortlos in der Nacht.
Eine solch düstere und unheimliche Wohngegend hatte Paul in China bisher noch nie durchquert. Die breiten, neu gepflasterten Straßen waren sauber, aber menschenleer und kaum befahren. Die mehrstöckigen Villen wurden von hohen Mauern und mehreren Rollen Stacheldraht geschützt. Ab und zu fuhr ein Mercedes oder BMW an ihm vorbei, blieb vor irgendeiner Einfahrt kurz stehen und verschwand dann hinter einem großen Tor, das sich mit einem leisen Summen wieder schloss.
Es war bereits kurz nach elf Uhr, und Paul wurde bewusst, dass er um diese Zeit schwer ein Taxi auftreiben würde. An der nächsten Kreuzung blickte er in alle Richtungen, ob er in der Ferne die Lichter einer Hauptstrasse erkennen konnte. Er sah nichts als spärlich beleuchtete Alleen und Mauern, deren Konturen sich schon bald in der Dunkelheit verloren. Er lief weiter geradeaus in der Hoffnung, irgendwann auf eine größere Straße zu treffen. Er dachte an Tang und seine Drohung und schaute sich um, ob ihm vielleicht ein Wagen folgte, aber die Straße war leer. Paul verspürte ein körperliches Unbehagen, einen wahren Ekel, wenn er an dieses Gespräch dachte. Diese frivole Lust, mit der Tang die Geschichte vom alten Mönch erzählt hatte. Die Befriedigung in seinem Gesicht, als er sah, wie sehr er seinen Gast damit getroffen hatte. Paul hätte sich für die nächsten Stunden immer weiter über diesen Zynismus empören können, aber seine ganze Aufregung konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Tang Erfolg gehabt hatte. Was Paul zuvor für unmöglich gehalten hatte, war geschehen: Zweifel an Davids Aufrichtigkeit, an ihrer Freundschaft
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