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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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Sie werden mich nicht dazu bringen, ihm zu misstrauen.«
    »Nein?«
    »Nein!«
    »Wussten Sie, dass er während der Kulturrevolution in einem Dorf auf dem Land gelebt hat?«
    »Selbstverständlich.«
    »Und was er dort getan hat?«
    »Er hat wie alle anderen den Bauern bei der Ernte geholfen. Er hat von morgens bis abends gearbeitet, um zu beweisen, dass er ein guter Revolutionär ist, und dafür bezahlt er heute noch: Seine Knie sind kaputt, und er hat Rheuma.«
    »Soso, Kniebeschwerden und Rheuma. Ich würde sagen, er kann von Glück reden, wenn sich seine Leiden darauf beschränken.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Hat er Ihnen gesagt, dass wir in derselben Arbeitsbrigade waren?«
    »Ja.«
    »Hat er Ihnen auch verraten, wie gut wir zusammengearbeitet haben?«
    Paul schüttelte erstaunt den Kopf. Er hatte offensichtlich keine Ahnung, worauf Tang hinauswollte. Das war gut, sehr gut sogar. Victor Tang hatte beschlossen, dass es auf einen Mitwisser mehr oder weniger nicht ankam. Er atmete einmal tief durch, diesen Augenblick wollte er auskosten, er hatte das Gefühl, dass die Suche der beiden nach der Wahrheit im Mordfall Owen hier, an diesem von Kerzen beleuchteten Tisch voller Köstlichkeiten aus Sichuan enden würde. In wenigen Minuten würde auch Paul Leibovitz begriffen haben, dass wir keine andere Wahl haben als zu misstrauen. Von dem Moment an würde er seinem Freund kein Wort mehr glauben. Das Ende einer Freundschaft. Hier, vor seinen Augen. Nie wieder würde dieser Mensch behaupten, die Kulturrevolution spiele heute keine Rolle mehr.
    »Hat er Ihnen«, Tang zog jedes Wort ein wenig in die Länge, »hat er Ihnen etwa nicht die Geschichte von dem alten Mönch im Kloster erzählt?«

XXIX
    Paul spürte, wie die Lebensenergie aus seinem Körper wich, wie jeder Atemzug, jede Bewegung, ja selbst das stille, aufrechte Sitzen zu einer unerträglichen Zumutung wurde. Obgleich Tang erst ein paar Sätze gesagt hatte, wusste Paul genau, dass dies keine einfache Anekdote war, die ihn unterhalten oder ablenken sollte, sondern ein Bericht, der nur ein Ziel hatte: das Vertrauen zwischen ihm und David für immer zu zerstören. Er sah es in Tangs Gesicht. In dessen Augen lag ein unheimliches Funkeln, eine Kälte, die etwas Unheilvolles, Bösartiges ankündigte. Der Mann konnte nur mit Mühe den freudig erregten Ton in seiner Stimme zügeln.
    Paul überlegte kurz, ob er ihn unterbrechen sollte, indem er einfach behauptete, er habe sich getäuscht, diese Geschichte kenne er doch schon. Aber das wäre feige gewesen. Er wollte wissen, welches Erlebnis für David so entsetzlich gewesen war, dass er es über zwanzig Jahre lang seinem besten Freund gegenüber verschwiegen hatte. Das war er ihrer Freundschaft schuldig.
    »Wir waren alle sehr aufgebracht, als uns der Mönch nicht sofort öffnete...«
    Paul ahnte, wie die Geschichte weitergehen würde. Spätestens in dem Moment, da Victor erzählte, dass er mit David und dem alten Mann allein im Kloster zurückgeblieben war. Mit jedem Satz steuerte diese Erzählung auf ein furchtbares, unvermeidliches Ende zu. David, sein David, dieser zuverlässige, geliebte Freund, hatte zugesehen, wie ein alter, wehrloser Mensch erschlagen wird. Nicht nur zugesehen, er hatte Tang die Tatwaffe gereicht und später durch Schweigen den Täter gedeckt. David, der Handlanger eines Mörders! Mit jedem Satz drang diese Wahrheit tiefer in Paul ein. Er konnte es nicht glauben und hatte doch keine Zweifel, dass es stimmte, was Tang sagte.
    Was hatte David davon abgehalten, darüber zu sprechen? Die Scham, das schlechte Gewissen, die Angst, Paul würde ihn richten und sich abwenden? War das Vertrauen zwischen ihnen nur eine Illusion gewesen? War dieses Verbrechen das Einzige, was er verschwieg, oder gab es noch andere Erlebnisse, die zu einer dunklen Seite seines Freundes gehörten, von der Paul nichts wusste? Paul hatte keine Ahnung, woher er die Kraft nehmen sollte, seinem Freund beim nächsten Mal in die Augen zu sehen.
    Zum Leben gehörte Vertrauen, grenzenloses Vertrauen, es war das Fundament jedes menschlichen Miteinanders, jeder Freundschaft, jeder Liebe, daran hatte ihn Christine wieder erinnert. »Enttäuscht zu werden, ist das Risiko, das der Vertrauende eingeht. Ein Leben in Misstrauen ist ungleich schlimmer als jede Enttäuschung.«
    Als wäre Vertrauen etwas für Dumme. Als hätten wir eine Wahl.
    Er dachte an ihre Worte, und selten in seinem Leben hatte er eine größere Sehnsucht nach einem Menschen

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