Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
Vom Netzwerk:
her?
    David trat einen Schritt auf ihn zu, Paul wich zurück.
    »Bleib, wo du bist. Was willst du?«, fragte er misstrauisch.
    »Was hast du? Ich komme, um dich zu holen.« David schien ehrlich erstaunt über Pauls Reaktion.
    »Mich zu holen? Was habt ihr mit mir vor?«
    »Wen meinst du mit ihr?«
    «Dich und Tang.«
    »Tang und mich? Bist du verrückt geworden? Wie kommst du darauf, dass wir zusammen...?«
    »Wie ich darauf komme?«, unterbrach Paul ihn schroff. »Weil du schon einmal sein Handlanger warst, oder etwa nicht?«
    »Wie bitte?«
    »Tu nicht so überrascht. Tang hat mir alles erzählt«, antwortete Paul voller Verachtung. »Vom Kloster. Vom Mönch. Von deiner eilfertigen Hilfe.« Paul hatte das Gefühl, seine eigene Stimme aus einer Distanz zu hören, als gehöre sie nicht ihm, sondern einem Dritten, der ihm fremd und nicht geheuer war.
    Davids schmale Augen weiteten sich, er öffnete den Mund und griff sich mit beiden Händen an den Kopf. Paul sollte diesen entsetzten Blick nicht vergessen. Als wenn vor seinen Augen ein Mensch implodierte, in sich zusammensackte wie eines dieser Gebäude, die Sprengmeister so gekonnt zum Einstürzen brachten. David schien für einen Moment nicht zu wissen, was er tun sollte, er schnaufte ein paar Mal laut, machte Anstalten, das Zimmer zu verlassen, kehrte um, setzte sich auf den Stuhl und bat die beiden anderen Männer, den Raum zu verlassen und die Tür zu schließen. Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Es war so still, dass Paul beider Atem hörte.
    »Es tut mir leid, Paul, dass du es von ihm erfahren hast.«
    »Mir auch«, rief die Stimme des Dritten und klang dabei so gekränkt und selbstgerecht, wie Paul niemals hatte sein wollen. »Warum hast du mir davon nie etwas erzählt?«
    »Ich weiß es nicht«, antwortete David, ohne aufzublicken.
    »Du weißt es nicht?«, wiederholte Paul mit erhobener Stimme. Diese Antwort war mehr als feige, sie war eine Beleidigung. »Du weißt es nicht? Wie oft haben wir in deiner Küche gesessen und über die Kulturrevolution geredet? Ich habe dich gefragt, was du erlebt hast, und du hast es mir erzählt. Aber das Entscheidende hast du einfach für dich behalten.«
    »Ich weiß.«
    »Wir haben über die Verbrechen gesprochen, die damals begangen wurden und die, ich erinnere noch genau deine Worte, dieses Land und jeden Einzelnen bis heute verfolgen. Du hast gesagt, wie wichtig es wäre, darüber zu reden, und dich darüber aufgeregt, dass niemand den Mut hat, das zu tun. Das hast du gesagt, stimmt’s?«
    »Ja.«
    »Oh David! Feige sind immer die anderen. Du hast mich mit Empörung im Gesicht angeschaut, und ich habe dir geglaubt. Jedes Wort.« Paul hörte, wie er immer lauter wurde, wie er Satz für Satz die Beherrschung verlor.
    »Aber du warst selber einer von ihnen. Einer von den Mördern und den Totschweigern.« Er stand direkt hinter David und war kurz davor, ihn vor Wut an den Schultern zu packen. »Hast du wenigstens Mei etwas gesagt?«
    »Nein. Niemandem.«
    »Nicht einmal deiner Frau? Wie konntest du mit dieser Lüge leben? Wie hast du es ausgehalten, neben ihr einzuschlafen und aufzuwachen und einen Mord vor ihr zu verbergen?« Paul erwartete keine Antwort auf seine Fragen, sondern redete gleich weiter. »Und dein Sohn? Wie willst du es ihm erklären? Und jetzt erwartest du von mir, dass ich dir glaube, dass du mich nicht im Auftrag Tangs holst?«
    David saß reglos auf dem Stuhl und sagte nichts.
    »Woher soll ich wissen, dass du mir die Wahrheit sagst? ›Verlorenes Vertrauen kehrt nicht zurück‹, hat Konfuzius gesagt, richtig?«
    »Ja.«
    Paul drehte sich um und trat mit einer Wucht gegen die Schranktür, dass sie aus ihren Scharnieren brach und krachend auf den Boden schlug. Er trat noch mal und noch mal nach ihr, bis sie scheppernd in der anderen Ecke des Zimmers lag. Er griff den Schemel vor dem Waschbecken an einem Bein und zerschmetterte ihn mit ganzer Kraft an der Wand, dass die Holzsplitter quer durch den Raum flogen. Am liebsten hätte er den Tisch und den Stuhl zertrümmert und sich dann auf seinen Freund gestürzt und auf ihn eingeschlagen. Er stand in der Mitte des Zimmers, in der Hand das Holzbein des Hockers, holte aus und zerschlug die Glühbirne, die an einem Kabel von der Decke hing.
    Im ersten Moment war es stockfinster, als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er, dass David noch immer regungslos auf dem Stuhl hockte.
    So sehr Paul auch

Weitere Kostenlose Bücher