Das Flüstern der Schatten
Sie?«, unterbrach ihn der Mann mit schneidender Stimme.
»Von den Erträgen meiner Ersparnisse«, erwiderte Paul und ärgerte sich sofort über seine Antwort. Er war dabei, sich einschüchtern zu lassen.
»Warum interessieren Sie sich so für den Mord an Michael Owen?« Paul schwieg. Solange der Mann ihm nicht sagte, wer er war, würde er auf keine Frage antworten.
»Kannten Sie Herrn Owen vorher? In wessen Auftrag haben Sie angefangen, Ermittlungen anzustellen?«
Paul schloss die Augen, er wollte nicht den Eindruck erwecken, als wenn er auch nur daran dachte, noch eine Frage zu beantworten.
»Herr Leibovitz, Sie tun sich damit keinen Gefallen. Sie machen einen Fehler.«
Mit denselben Worten hatte Tang ihn gestern Abend verabschiedet, und je länger Paul darüber nachdachte, desto mehr wuchs in ihm die Überzeugung, dass nur Victor Tang hinter seiner Verschleppung stecken konnte.
Er schüttelte den Kopf. »Sagen Sie mir, warum und in wessen Auftrag Sie diese Fragen stellen, und ich werde sie vielleicht beantworten. Vorher hören Sie von mir nichts.«
Der Mann taxierte ihn, als könne er mit einem langen Blick feststellen, wie ernst es Paul war. Plötzlich stand er auf, ging um den Schreibtisch herum, und Paul fürchtete für einen Moment, er würde ihm nun Gewalt antun. Aber er ging an ihm vorbei zur Tür, öffnete sie, befahl den auf dem Flur wartenden Männern, Paul wieder in den Keller zu bringen, und verschwand ohne ein weiteres Wort in einem Nebenzimmer.
Paul lag auf dem Bett und starrte an die Decke, die Kopfschmerzen hatten sich, abgesehen von einem leichten Ziehen über dem linken Auge, gelegt, und er versuchte seine Gedanken zu ordnen. Was hatte Tang mit ihm vor? Welche Rolle spielte Richard Owen? Falls Anyi nicht log, war möglicherweise er es, der seinen Sohn an Tang verraten hatte. Aber sagte Anyi die Wahrheit? Er hatte das Gefühl, allmählich jegliches Gespür dafür zu verlieren, wem er noch trauen konnte und wem nicht.
Er hörte wieder Autos vorfahren, Kieselsteine flogen gegen die Scheibe, Bremsen quietschten. Er ging zum Fenster und kletterte auf den Stuhl. Es kamen immer mehr Autos, er glaubte, nicht nur die Stimme des Mannes, der ihn heute ausgefragt hatte, wiederzuerkennen sondern auch, und er traute seinen Ohren nicht, die von Tang und David. Sie waren weiter weg, er verstand kein Wort von dem, was sie sagten, aber da war Davids leichter Singsang, seine Melodie, nein, er täuschte sich nicht, und die Stimme, die ihm leidenschaftlich antwortete, war die Tangs. Sie entfernten sich schnell, und nach wenigen Sekunden waren sie ganz verstummt.
Paul drückte den Mund an den Fensterspalt, er rief den Namen seines Freundes, schlug mit der Faust gegen das Glas, ohne dass jemand antwortete.
Atemlos vor Aufregung schritt er die nächste Stunde pausenlos in seinem Zimmer auf und ab, stieg zuweilen auf den Stuhl, lauschte, rüttelte am Eisengitter der Tür oder trat gegen den grauen, schmalen Metallschrank, der wie ein Spind neben dem Waschbecken stand, bis dessen Wand eine tiefe Beule hatte. Allmählich kehrte seine Vorstellungskraft zurück und mit ihr die Angst. Er war ihnen wehr- und schutzlos ausgeliefert und fühlte seine Ohnmacht am ganzen Körper. Ihm wurde schwindelig, er bekam keine Luft, und durch seine linke Brust zog sich ein stechender Schmerz.
Er legte sich aufs Bett und versuchte sich zu beruhigen, konzentrierte sich auf Atemübungen, die ihm David vor langer Zeit einmal beigebracht hatte, und ganz langsam, Atemzug um Atemzug, schlug sein Herz wieder im gewohnten Rhythmus. So lag er stundenlang, dachte an David, versuchte den Gedanken zu verdrängen, dass der ihn verraten haben könnte, beobachtete, wie es draußen dämmerte und dunkel wurde. In der Auffahrt gingen Lampen an, eine davon warf einen schmalen Lichtstrahl in sein Zimmer, ansonsten war es finster.
Plötzlich hörte er Schritte und dann Stimmen auf dem Flur. Jemand schloss die Tür und das Eisengitter auf. Zwei unbekannte Männer traten ein, ihnen folgte ein dritter, der das Licht anmachte.
Es war David.
Paul zuckte zusammen. Mehrmals hatte er sich in den vergangenen Stunden vorgestellt, wie er reagieren, was er sagen würde, wenn sie sich wieder sahen, nun war es so weit, und er stand seinem Freund sprachlos gegenüber. David versuchte ein Lächeln, das Paul nicht erwiderte. Er fühlte auch jetzt nichts, ihm war, als betrachtete er eine weiße Wand. Paul erschrak über sich selbst. Wo kam diese Kälte
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