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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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gestern, nur die Taschen waren leer, sein Handy hatten sie ihm abgenommen, ebenso die Brieftasche, den Ausweis und den Gürtel, an seinen Schuhen fehlten die Schnürsenkel. Auf einem kleinen Holztisch entdeckte er eine Plastikflasche mit Wasser und einen Teller voll Reis. Er trat an den Tisch und trank in vielen kurzen Zügen die halbe Flasche aus.
    Paul überlegte, ob es eine Möglichkeit gab, sich aus diesem Raum zu befreien, aber das einzige Fenster war klein und vergittert und lag an der Wand gegenüber ganz oben, fast unter der Decke. Die Tür war mit einem Schiebegitter aus Metall gesichert und verschlossen. Er rüttelte daran, rief ein paar Mal laut »Hallo«, ohne eine Antwort zu erhalten. Paul nahm den einzigen Stuhl im Zimmer, stellte ihn unter das Fenster und stieg hinauf. Durch das Glas konnte er nur wenig erkennen, mehr als die Hälfte der Scheibe befand sich unter der Erde, der Rest gab den Blick frei auf eine Handbreit blauen Himmel. Er konnte das Fenster einen Spalt ankippen und hörte kurz darauf ein Auto vorfahren, Wagentüren schlagen, Schritte, das Auto entfernte sich wieder. Sollte er Besuch bekommen? Er horchte. Stieg vom Stuhl, ging zur Tür und lauschte. Nichts.
    Wo hatten sie ihn hingebracht? Dieser Raum war weder eine Zelle - er war mit Sicherheit nicht in einem offiziellen Gefängnis - noch ein Gästezimmer. Er befand sich in einer Art Souterrain, und ihm fiel ein, dass David einmal von zwei Räumen im Keller des Polizeipräsidiums erzählt hatte, in denen Geständnisse erpresst werden. Notfalls mit Gewalt.
    Seltsamerweise machte ihm dieser Gedanke keine Angst. Das mochte an einem augenblicklichen Mangel an Phantasie liegen, Angst war, sofern sie nicht auf traumatischen Erfahrungen beruhte, nichts anderes als ein Ausdruck von einem Übermaß an Phantasie. Damit hatte er Justin früher oft getröstet, wenn der sich vor der Dunkelheit der Nacht fürchtete. Man stellte sich vor, was alles passieren könnte , und fürchtete sich. Wer keine Einbildungskraft besaß, konnte also auch keine Angst haben.
    Er dachte an Michael Owen. Vermutlich hatte der auch bis zum Schluss nicht wahrhaben wollen, wie weit sein Feind gehen würde.
    Paul musste immer wieder an David und den Tod des alten Mönchs denken. Tang hatte die Geschichte so ausführlich und detailliert erzählt, dass vor Pauls Augen Bilder jenes Nachmittags entstanden waren, und sie spukten fortwährend durch das Halbdunkel dieses Zimmers. Das verwüstete Kloster. Die vollgeschissenen Schriften. Er sah die Roten Garden mit ihren Fahnen über die Felder ziehen, den Mönch, er sah, wie David dem jungen Tang die Holzlatte reichte und wie dieser zum Schlag ausholte. Das Schlimmste aber war, dass er diese Bilder wie ein unbeteiligter Zuschauer betrachtete. Er spürte dabei nichts, außer einer entsetzlichen inneren Kälte, einer Gleichgültigkeit der Tat und seinem Freund gegenüber. Er kannte dieses Gefühl aus den Monaten nach Justins Tod, er hatte es wie eine Art Taubheit des Herzens in Erinnerung, und diese Lähmung war furchtbar gewesen. Nichts zu fühlen wirkte im ersten Moment wie eine Erleichterung, aber auf Dauer war es für die Seele schlimmer als jeder Schmerz. Er hatte lange gebraucht, um sich aus diesem Gefühlskoma zu befreien. In diesen Zustand wollte er um keinen Preis zurück, aber sobald er an David dachte, war er auf dem Weg dorthin. Er empfand nichts. Keinen Hass, keine Enttäuschung, nicht einmal Wut. Als hätte es nie eine Nähe zwischen ihnen gegeben.
    Paul setzte sich aufs Bett, lehnte sich an die kahle, graue Betonwand, schloss die Augen und versuchte eine Position zu finden, in der die Kopfschmerzen erträglicher wurden. In unregelmäßigen Abständen vernahm er Schritte vor dem Fenster, Autos, die vorbeifuhren, manchmal auch Stimmen, die rasch wieder verstummten.
    Es war bereits dunkel, als er einen Schlüssel im Schloss hörte. Die Tür öffnete sich, das Metallgitter wurde zur Seite geschoben, und das Licht wurde eingeschaltet. Zwei Männer betraten den Raum. Einer von beiden brachte ein Tablett mit zwei Flaschen frischem Wasser, einer großen Schale Reis und gebratenes Gemüse, der andere einen Blecheimer und eine Rolle Klopapier. Auf seine Fragen, wo er war und wer sie seien, reagierten sie nicht, seine Bitte um Schmerztabletten beantworteten sie mit einem kurzen, mürrischen Nicken. Einige Minuten später kehrte einer von ihnen mit einer Packung Aspirin zurück. Danach war es wieder still und dunkel. Paul nahm gleich

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