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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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vier Tabletten, zog sich aus, legte sich hin, verkroch sich bis über das Kinn unter der Bettdecke und schlief kurz danach ein.
    Er wurde von einer tiefen Männerstimme und einer Hand geweckt, die unsanft an seiner Schulter rüttelte. Paul brauchte eine Zeit, um zu begreifen, dass er nicht träumte. Vor seiner Pritsche standen drei große, kräftige Chinesen, die weder wie Polizisten noch wie gedungene Mörder aussahen, sondern ihn in ihren dunkelblauen Anzügen eher an Geschäftsleute erinnerten. Einer forderte ihn auf, sich sofort anzuziehen und ihnen zu folgen.
    Sie führten ihn durch einen schmalen, langen Flur zu einem kleinen Fahrstuhl, in den sie sich hineinzwängen mussten, um zu viert darin Platz zu finden. Als die Tür sich schloss, hatte Paul das Gefühl, die ganze Kabine stinke nach dem süßlichen Parfüm aus dem Auto. Er fühlte, wie muskulös die Körper der jungen Männer waren, bekam ihren nach kaltem Rauch stinkenden Atem direkt ins Gesicht, und ihm wurde immer unheimlicher. Er verstand plötzlich, wie schutzlos er ihnen ausgeliefert war. Die Männer gaben sich gar nicht erst die Mühe, höflich an die Decke oder zu Boden zu schauen, sondern glotzten ihn unverhohlen an. Ihre Blicke trafen sich mehrmals, und der Ausdruck in ihren Augen war ihm fremd, er konnte darin nicht lesen, was sie mit ihm vorhatten.
    Sie brachten ihn in ein Zimmer, das wie die Minisuite eines etwas heruntergekommenen chinesischen Mittelklasse-Hotels aussah. Vor einem großen Fenster standen zwei Sofas mit braunen, abgewetzten Bezügen, auf dem Tisch daneben ein Strauß verstaubter Plastikblumen, der helle Teppich war mit Flecken übersät. An der Wand hing eine Uhr, es war morgens kurz nach halb sechs. Hinter einem Schreibtisch saß ein Mann über einen Aktenordner gebeugt, er schaute kurz hoch, als sie das Zimmer betraten, und las dann weiter. Die Männer bedeuteten Paul, sich auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch zu setzen, verließen den Raum und schlossen die Tür.
    Der Mann machte keine Anstalten, ein Gespräch zu beginnen.
    »Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?«, sagte Paul nach einigen Minuten des Schweigens. Er wollte empört, ja wütend wirken, hatte aber beim Sprechen kaum Luft bekommen und deshalb kurzatmig und sehr angespannt geklungen.
    Der Mann blickte nicht einmal von seinen Akten auf.
    »Warum halten Sie mich gefangen?«
    Jetzt hob er den Kopf und betrachtete Paul, ohne eine Miene zu verziehen.
    »Arbeiten Sie für Victor Tang?«, fragte Paul unbeirrt weiter.
    Der Mann klappte den Ordner auf dem Tisch zu, schob ihn beiseite, lehnte sich ein wenig vor und schaute Paul direkt in die Augen. »Ich möchte gleich zu Beginn unseres Gespräches etwas klarstellen, Herr Leibovitz: Es gibt hier nur einen, der Fragen stellt, und das bin ich. Haben Sie mich verstanden? Sie können entweder schweigen oder antworten, das bleibt Ihnen überlassen. Ich persönlich würde Ihnen allerdings in Ihrem eigenen Interesse Letzteres empfehlen.«
    Statt zu antworten, blickte Paul aus dem Fenster und versuchte dabei möglichst gelassen auszusehen. Er wollte sich nicht einschüchtern lassen. Der Mann sah nicht so aus, wie Paul sich einen Handlanger Tangs vorstellte, aber auch nicht wie ein biederer Kommissar aus dem Polizeipräsidium von Shenzhen - dazu war sein Auftreten einem Ausländer gegenüber zu selbstbewusst. Er war höchstens Anfang vierzig, trug ebenfalls einen Anzug, sprach Mandarin ohne erkennbaren Akzent, vermutlich stammte er aus Peking. Seine Stimme war scharf und bestimmt.
    »Sie haben sich«, sagte er und lehnte sich nun in seinem Stuhl weit zurück, »Zutritt zu der Wohnung Michael Owens in Hongkong verschafft und daraus mehrere Gegenstände, darunter ein Handy und eine Festplatte, entwendet.«
    Paul schluckte vor Schreck und versank tief in seinem Stuhl.
    »Warum haben Sie das getan?«
    »Wer hat Ihnen das verraten?«, entfuhr es Paul. Nur David und Christine wussten davon, und sie würden es weder der Polizei noch Tang sagen. Oder?
    »Haben Sie mich eben nicht verstanden? Antworten oder schweigen«, wies ihn der Mann zurecht.
    »War es David? Hat David Zhang Ihnen davon erzählt?«, entfuhr es Paul.
    Ein kurzes Lächeln huschte über das Gesicht seines Gegenübers. »Und wenn schon, spielt das eine Rolle? Sie haben einen Diebstahl begangen. Warum, Herr Leibovitz?«
    Wer war dieser Mann? Woher kannte er David?
    »Wovon leben Sie in Hongkong?«, fragte der Fremde unvermittelt weiter.
    »Das geht Sie...«
    »Wovon leben

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