Das Flüstern der Schatten
über seinen Ausbruch erschrak, so erleichtert fühlte er sich. Die innere Lähmung, diese grässliche Taubheit war verschwunden und dieser Wut gewichen, die er und David nun aushalten mussten. Auf dem Weg zurück zu ihm gab es keine Abkürzung.
»Warum hast du nichts gesagt?«, sagte Paul, aber seine Stimme hatte keine Kraft mehr.
»Ich weiß es nicht«, wiederholte David tonlos.
»Lag es vielleicht an mir?«, fragte Paul voller Sarkasmus. »Hast du in all den Jahren Andeutungen gemacht, die ich überhört habe?«
»Nein.«
Paul ließ sich auf die Pritsche sinken und überließ sich seiner Trauer. David gab eigenartige Geräusche von sich, mal klang es nach einem tiefen Seufzer, dann wieder nach einem Schnaufen oder tränenlosen Schluchzen. Sie saßen lange da, ohne etwas zu sagen. Plötzlich richtete sich David auf und wandte sich zu ihm. In der Dunkelheit konnte Paul deutlich die Umrisse des schmächtigen Körpers erkennen.
»Es war weg«, sagte David sehr bedächtig und sehr leise. »Jahrelang. Ich hatte es aus meinem Gedächtnis gelöscht. Als wäre es nie geschehen. Dabei hat es immer wie ein Schatten über meinem Leben gelegen, aber ich habe es nicht gemerkt oder nicht merken wollen. Irgendwann fing dieser Schatten an zu flüstern. Die Erinnerungen tauchten wieder auf, in Bildern, in Worten, ja, ich hatte selbst den modrigen Geruch des alten Klosters wieder in der Nase, aber ich konnte nicht darüber reden. Ich habe mich zu sehr geschämt. Kannst du das nicht verstehen?«
David erhob sich von dem Stuhl, ging ein paar Schritte auf und ab und setzte sich zu ihm aufs Bett. Das wenige Licht genügte, um ihm ins Gesicht zu sehen. Es war ein kleines, elendiges Häufchen Mensch, das da vor Paul kauerte, der nicht wusste, was er antworten sollte.
»Wie konnte ich so etwas tun, Paul?«
»Das frage ich mich auch.« Der Satz war ihm herausgerutscht, und er bereute ihn sofort. Woher nahm er überhaupt das Recht, seinen Freund anzuklagen? Wer wusste schon, wie er sich in der gleichen Situation verhalten hätte? Er wollte nicht über die Tat urteilen, er wollte jetzt nur noch wissen, warum David nicht den Mut aufgebracht hatte, darüber zu reden, und ob es womöglich noch etwas gab, was er verschwieg.
Aber David hatte seine Bemerkung offensichtlich nicht gehört, wie zu sich selbst sprach er weiter. »Wie konnte ich mich so leicht verführen lassen? Warum gab es nichts in mir, das aufbegehrte? Früher habe ich immer gedacht, wir haben Angst vor den anderen. Vor der Partei, den Eltern, den Lehrern, den Vorgesetzten. Aber am meisten Angst müssen wir vor uns selber haben.«
»Gibt es noch andere Tote, über die du nicht gesprochen hast?«
David nickte. »Den alten Hu. Ein Koch aus unserer Arbeitsbrigade, der seine Suppe immer mit Pfefferkörnern nachgewürzt hat. Aber sie sollte damals für alle gleich schmecken. Als die Roten Garden ihn erwischten, haben sie ihn tot geprügelt.«
»Du auch?«
»Nein. Ich habe nicht mitgemacht, aber ich stand dabei, ohne ihm zu helfen. Ich fürchte, ich dachte damals, er hätte seine Strafe verdient. Eine Suppe hat für alle gleich zu schmecken. Diesen Wahnsinn habe ich einmal geglaubt.«
»Ermordet, wegen ein paar Pfefferkörnern?«
»Ja. Ich kann seitdem kein Gericht mehr würzen, ohne Angst zu haben. So lang sind die Schatten.«
Das Land der flüsternden Schatten, dachte Paul. Einer davon hatte sie all die Jahre über begleitet, und er hatte ihn weder gesehen noch gehört.
»Und ich dachte immer, ich würde dich kennen«, sagte er leise.
»Das tust du auch«, antwortete David. »So gut, wie wir eben einen anderen Menschen zu kennen vermögen. Ein paar Geheimnisse trägt jeder mit sich.«
Sie saßen lange schweigend auf dem Bett, und Paul hätte seinen Freund gern in den Arm genommen, aber er traute sich nicht.
»Wollen wir langsam mal raus aus diesem Keller?«, fragte David irgendwann.
»Wohin?«
»Wohin du willst«, antwortete David und holte tief Luft. »Du bist frei. Fahr zurück nach Hongkong. Öffne die Flasche Champagner, die in deinem Kühlschrank steht.«
»Und was ist mit Tang?«
»Sie haben ihn gestern Abend verhaftet, in der Nacht verhört und heute Vormittag hierhergebracht. Er sitzt im Keller eines Nebenhauses.«
»Wer ist ›sie‹?«
»Die Staatssicherheit. Ihr gehört diese Anlage. Wir sind in der Nähe des Flughafens von Shenzhen.«
»Was hat die Staatssicherheit mit dem Fall zu tun?«
»Als du dich vorgestern Nachmittag auf den Weg zu den
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