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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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Lamma.«
    Sie schwieg für einen Moment. Das Klingeln der Telefone, die Stimmen der Frauen, jemand rief ihren Namen.
    »Ich könnte heute Abend nach Lamma kommen, und wir essen im Sampan am Hafen.« »Nein.« Sein Ton war verletzend, er wusste das. »Nein, auf keinen Fall«, wiederholte er. Als bestünde die Gefahr, sie könnte seinen Wunsch missachten und heimlich kommen.
    »Paul, du machst es mir manchmal nicht einfach.«
    »Ich weiß, Christine. Es tut mir leid, ich melde mich später noch einmal.«
    Er wollte keine Freundin. Er war nicht mehr fähig zu lieben. Er wollte nicht enttäuschen und nicht mehr enttäuscht werden. Er wollte allein sein.

IV
    Sie waren sich im Winter an einem kalten, verregneten Sonntagnachmittag auf Lamma begegnet. Er auf seiner täglichen Wanderung, sie auf der Suche nach dem Dorf Sok Kwu Wan und der Fähre zurück nach Hongkong. Es hatte heftig zu regnen begonnen. Er stand im Schutz eines Aussichtspavillons, und blickte über das bleigraue Meer, auf dem sich weiße Schaumkronen kräuselten. Er zuckte zusammen, als sie ihn von hinten ansprach.
    »Entschuldigung.«
    Er trug wie sie wasserfeste Wanderschuhe und ein dunkelgrünes Regenkäppi, dessen Kapuze ihm tief in die Stirn reichte. Sein Gesicht war nass, ein Wassertropfen hing an seiner Nasenspitze, ein paar graue Haarsträhnen klebten auf der Stirn, er hatte offenbar erst vor kurzem hier Zuflucht gesucht.
    Der Regen prasselte auf ihren Rücken, und sie trat noch einen Schritt näher auf diesen seltsamen Fremden zu, der genau in der Mitte des Unterstandes, auf dem einzigen gänzlich trockenen Platz, verharrte und sie so überrascht anstarrte, als hätte er geglaubt, allein auf der Welt zu sein.
    »Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken«, wiederholte sie.
    Er sagte noch immer nichts. Sie hatte das Gefühl, als würde er jeden Augenblick wie eine Autoglasscheibe in Tausende von kleinen Einzelteilen zerbersten. Sie hatte noch nie in ein Gesicht geschaut, dessen Züge so große Verletzbarkeit ausdrückten. Am liebsten hätte sie ihn an die Hand genommen, zu einer Bank geführt, sich neben ihn gesetzt, schweigend mit ihm aufs Meer geblickt und gewartet, bis er seine Sprache wiederfände. Aber es gab keine Bank, es regnete, ihr war kalt, und die Fähre fuhr in vierzig Minuten.
    »Können Sie mir vielleicht sagen, wie ich nach Sok Kwu Wan komme?«
    »Sie müssen sich nicht entschuldigen«, antwortete er, als hätte er ihre Frage nicht gehört.
    »Ich dachte, ich hätte Sie erschreckt.«
    »Das haben Sie auch.«
    »Dann tut es mir leid, dafür möchte ich mich entschuldigen.«
    Er schwieg, blickte sie an und nickte schließlich. Als habe er lange und gründlich über etwas nachgedacht.
    »Ich suche den Weg nach Sok Kwu Wan«, wiederholte sie. »Bin ich hier richtig?«
    »Was wollen Sie denn da?«
    Verstand er ihr Englisch nicht, oder hörte er einfach nicht richtig zu? Warum war dieser Mann nicht in der Lage, auf eine einfache Frage eine einfache Antwort zu geben?
    »Die Fähre nach Hongkong nehmen«, antwortete sie.
    Er nickte noch einmal. »Gehen Sie diesen Weg weiter. Hinter der übernächsten Bergkuppe sehen Sie es.«
    »Wie lange brauche ich dahin?«
    Er schaute in den Regen, der immer heftiger auf das Dach des Pavillons trommelte, und runzelte die Stirn. »Bei dem Wetter? Ich fürchte, eine ganze Weile«, sagte er ganz plötzlich auf Kantonesisch.
    Sie lächelte kurz, ohne genau zu wissen warum. War es seine weiche, ruhige Stimme, dieser merkwürdige Singsang, der so gar nicht zum harten, schroffen Ton ihrer Sprache passte oder zur Art, wie sie aneinander vorbeiredeten?
    »Meine-Fähre-geht-in-vierzig-Minuten«, antwortete sie jetzt ebenfalls auf Kantonesisch, wobei sie jeden Laut langsam aussprach und sorgfältig betonte, damit er sie nicht missverstand. »Glauben-Sie-dass-ich-das-schaffe?«
    »Das-hängt-davon-ab-wie-schnell-Sie-laufen«, sagte er ebenfalls sehr langsam und artikuliert.
    Es war lange her, dass sie so spontan so laut gelacht hatte. Er schaute sie verdutzt an. Dann flog auch über sein Gesicht ein kurzes, überraschtes Lächeln, und erst Wochen später sollte sie begreifen, was für ein Wunder das war.
    Sie warteten, dass der Regen nachließ. Er wollte wissen, warum sie ausgerechnet bei so einem Sauwetter nach Lamma gekommen sei, und sie antwortete, das frage sie sich auch, eine Freundin hätte ihr diesen Spaziergang über die Insel empfohlen, aber die sei wahrscheinlich im Herbst hier gewesen. Sie erzählte

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