Das Flüstern der Schatten
oder Geld für ein neues Videospiel. Für den sie in keine Rolle schlüpfen musste, nicht die der Mutter, nicht die der Schwester, nicht die der Ex-Frau, nicht die der Chefin, nicht die der Tochter. Der ihr einfach nur gegenübersaß, zuhörte, den Kopf hin und her wiegte, hin und wieder an seinem Tee nippte und Fragen stellte. Sie erzählte von der katholischen Schule, die sie in Hongkong besucht hatte, und von ihrem Tourismus-Studium in Vancouver. Von den Mühen, in den Zeiten des Internets mit einem kleinen Reisebüro Geld zu verdienen und gleichzeitig ein Kind aufzuziehen. Von den Abenden, an denen sie vor Erschöpfung beim Fernsehen einschlief und sie Josh oder Tita in der Nacht vor dem flimmernden Bildschirm weckten. Von den sonntäglichen Abendessen mit ihrer Mutter, dieser lästigen Pflicht, der sie sich, wie die meisten Hongkonger, nicht entziehen konnte. Sie erzählte von dem Scheitern ihrer Ehe. Von ihrem Mann, der seit Jahren auf der anderen Seite der Grenze eine chinesische Geliebte und ein Kind gehabt hatte, ohne ihr etwas zu sagen. Der diese Frau und ihren gemeinsamen Sohn während ihrer Ehe ausgehalten hatte, was der eigentliche Grund gewesen war, warum bei ihnen das Geld nie reichte, warum sie die kleine Mietwohnung in Kowloon Tong und später sogar ihren Wagen hatten verkaufen müssen, selbst als die Geschäfte bei »WorldWideTravel Inc.« noch gut liefen. Sie hatte sich darüber nie so richtig Gedanken gemacht oder, so muss sie im Rückblick sagen, wohl nicht machen wollen. Sie vertraute ihrem Mann, und für die vielen geschäftlichen Reisen nach China gab es immer gute Gründe. Zumindest behauptete er das, und sie wollte seine Worte nicht anzweifeln, selbst nicht, als ihr erste Gerüchte über seine Untreue zu Ohren kamen. Sie hatte ihn verteidigt. Ihren Freundinnen gegenüber, ihrer Mutter gegenüber. Sie hatte ihm geglaubt, sie wollte ihm glauben, aber er hatte sie getäuscht, betrogen und verraten. Er hatte sie hintergangen und getäuscht. Sie erzählte das ohne Selbstmitleid. Das war das Risiko, das Menschen eingehen, die anderen Vertrauen schenken, das war der Preis, den sie zahlen. Später hieß es in ihrer Verwandtschaft hinter vorgehaltener Hand, sie sei doch selbst schuld, so naiv, so gutgläubig, wie sie gewesen sei. Monatelang hatte sie wegen dieser Vorwürfe keinen Kontakt mit ihrer Familie. Sie würde es heute nicht anders machen. Glauben und hoffen. Wieder und wieder. Als wäre Vertrauen etwas für Dumme. Als hätten wir eine Wahl.
Die Dunkelheit war schon hereingebrochen, als Christines Redefluss langsam verebbte. Paul saß ihr reglos gegenüber, sie sah seine schemenhaften Umrisse in der Dämmerung, das Flackern der Kerze, die er angezündet hatte, fiel auf sein Gesicht. Er sah so erschöpft aus, als hätte er selbst die ganze Zeit erzählt. Sie schwiegen lange, aber es war kein bedrohliches Schweigen, sondern eines, in dem sie sich aufgehoben fühlte.
Eine Geste, eine Andeutung nur und …
Er brachte sie hinunter zum Fähranleger. Es hatte aufgehört zu regnen, und das Licht der Laternen spiegelte sich in den Pfützen. Die Restaurants in Yung Shue Wan waren hell erleuchtet und voller Großfamilien, denen der kalte Wind nichts ausmachte und deren Lachen und Plaudern durch das Dorf und über die angrenzenden Hügel schallte. Im Hafen dümpelten ein paar Fischerboote.
Die Fähre legte pünktlich an.
Sie standen sich gegenüber, wortlos, nicht sicher, wie sie auseinandergehen sollten. Aber selbst als sie beim Abschied kein Wiedersehen vereinbarten, es bei einem unverbindlichen »Vielleicht sehen wir uns mal wieder« blieb, schwand nichts von ihrem Gefühl der Vertrautheit, dem Eindruck einer tröstlichen Geborgenheit.
V
Ein fast unerträgliches Völlegefühl plagte ihn. Sein Bauch war hart und gebläht, alle paar Minuten musste er sich im Bett aufrichten, und es krochen lange, tiefe Rülpser aus seinen Gedärmen hervor. Als hätte er viel zu viel gegessen, gierig etwas in sich hineingeschlungen, ohne Rücksicht auf seinen Körper zu nehmen, und nun revoltierte der Magen. Paul wusste nicht, wie ihm geschah. An der Suppe konnte es nicht liegen, und etwas anderes hatte er nicht gegessen.
An Schlaf war nicht zu denken. Er lag auf dem Futon, starrte an die Decke, lauschte dem kreisenden Ventilator und dem wütenden Summen der Mücken, die vergeblich versuchten, ein Loch im Moskitonetz zu finden. Der Regen schlug wieder heftiger gegen die Scheiben. Er hatte an diesem Tag mehr
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