Das Flüstern der Schatten
dann auf Lamma und nicht in den Mid-Levels oder Repulse Bay wie die meisten wohlhabenden Ausländer. Oder diente das Haus nur als Wochenenddomizil? Sein Kantonesisch war ausgezeichnet, aber sie konnte keine Spuren einer chinesischen Frau oder Freundin entdecken. Von wem hatte er das gelernt? Lebte er allein? In der Garderobe hatte sie eine Kinderjacke und Kindergummistiefel bemerkt, und am Türrahmen markierten Striche und Daten das Wachstum eines Kindes.
Seine Stimme riss sie aus ihren Gedanken: »Ich habe Tee und eine heiße Suppe gemacht. Möchten Sie etwas?«
»Ja, sehr gerne.«
Als er sie mit ihren schlotternden und mehrfach hochgekrempelten Ärmeln und Hosenbeinen sah, flog ein zweites, kurzes Lächeln über sein Gesicht.
Sie spürte ihr Herz pochen. Eine Geste, eine Andeutung würden genügen.
Die Suppe war köstlich. Eine Brühe aus Gemüse und Schweinebauch, wie sie sie aus ihrer Kindheit von ihrer Großmutter kannte.
»Es schmeckt wunderbar.«
»Danke.«
»Haben Sie die selber gemacht?«
»Ja«, sagte er. »Gestern. Ich habe sie jetzt nur aufgewärmt.«
»Kochen Sie oft?«
»Jeden Tag.«
Sie überlegte, ob von ihren Freundinnen überhaupt noch jemand selber kochte. Alle, die ihr einfielen, hatten philippinische Hausmädchen, die das erledigten, und sonntags aßen sie alle im Restaurant. Ihr Ehemann war, wie eigentlich alle Hongkonger Männer, die sie kannte, noch nicht einmal in der Lage gewesen, ein anständiges Congee zuzubereiten.
»Bei Ihnen kocht das philippinische Hausmädchen, vermute ich. Und sonntags, wenn sie frei hat, gehen Sie essen.«
Sie unterdrückte ein Schmunzeln.
»Und Ihr Mann...«
»Ich bin geschieden«, unterbrach sie ihn.
»Und Ihr Ex-Mann konnte Ihnen nicht einmal ein anständiges Congee zubereiten.«
Wann hatte ein Mann sie das letzte Mal so zum Lachen gebracht?
»Sie kennen sich ziemlich gut aus in Hongkong, und Sie sprechen sehr gut Kantonesisch.«
»Sie meinen sehr gut für einen Gweilo.«
»Nein. Ich meine sehr gut für sehr gut.«
»Danke.«
»Wo haben Sie das gelernt?«, fragte sie.
»In Hongkong.«
Sie blickte ihn an, wie er weit über die Schale gebeugt seine Suppe löffelte und dabei schlürfte, als wäre er Chinese.
»Sie sind hier geboren, stimmt’s?«
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»Weil, weil...«
»Weil ich meine Suppe schlürfe, Chinesisch kochen kann und Kantonesisch spreche?«, fragte er zurück. »Das spricht eigentlich alles dagegen. Oder haben Sie schon mal einen Ausländer getroffen, der hier geboren wurde oder aufwuchs, weil sein Vater im Auftrag Ihrer Majestät oder einer Firma in der Stadt arbeitete, und der Kantonesisch spricht oder Mandarin und der auch nur das geringste Interesse an der Kultur oder Geschichte Hongkongs hat?« Er goss ihr und sich noch etwas Tee ein, bevor er fortfuhr: »Nein, ich bin in Deutschland zur Welt gekommen. Meine Mutter war Deutsche, mein Vater Amerikaner. Ich bin 1975 von Vietnam über Bangkok zum ersten Mal nach Hongkong gekommen. Seitdem lebe ich hier.«
»Auf Lamma?«, fragte sie erstaunt.
»Nein, in der Stadt. Nach Lamma bin ich erst vor zwei Jahren gezogen. Kurz nach meiner Scheidung.«
Deutschland. Amerika. Vietnam. Scheidung. 1975. Dreißig Jahre Hongkong.
Ihr gingen so viele Fragen durch den Kopf, dass sie nicht wusste, welche sie zuerst stellen sollte.
Was hatte er in Vietnam gemacht?
Weshalb war er nach Hongkong gekommen? Womit hat er soviel Geld verdient, dass er sich ein so großes Haus leisten konnte?
Lebte er von einer Arbeit oder seinem Vermögen? Warum ausgerechnet auf Lamma, dieser Insel, die Einheimische höchstens mal zum Wandern oder zum Abendessen in einem der Fischrestaurants besuchten?
»Ist es Ihnen nicht zu einsam hier?«
Er schüttelte leicht den Kopf.
»Leben Sie ganz allein hier?«
Er schaute ihr direkt in die Augen. Da war wieder dieser Ausdruck, der sie schon vorhin so tief berührt hatte, verletzlich, verwundbar, schutzlos, eine Art von Nacktheit, die sie nicht kannte.
»An manchen Tagen ja. An manchen Tagen nicht.«
Sie dachte an die Kinderschuhe im Flur. Sie wollte etwas fragen, aber sein Blick sagte ihr, dass es besser wäre zu schweigen.
»Und Sie?«, fragte er nach einer langen Pause.
Es war eine Einladung, die sie nicht ausschlagen konnte. Er war der erste Mensch seit Langem, der ihr seine Aufmerksamkeit schenkte, ohne etwas von ihr zu wollen. Ohne dafür einen billigeren Flug zu verlangen, ein Upgrade, eine Gehaltserhöhung, einen freien Tag
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