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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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von ihren sonntäglichen Wanderungen auf Lantau und den New Territories und wie wunderschön die Sai-Kung-Halbinsel und die dortigen Strände seien und dass kaum jemand wisse, wie grün Hongkong eigentlich sei und wie viele Naturschutzgebiete es habe, und da er ihr zuhörte, so aufmerksam und geduldig zuhörte wie schon lange niemand mehr und sie dabei mit seinen tiefblauen Augen so ernsthaft anschaute, als hätte sie wirklich etwas Wichtiges zu sagen, kannte ihr Redefluss keine Grenzen. Sie erzählte, wie viel ihr diese Ausflüge bedeuteten, da sie sechs Tage in der Woche von 9 bis 19 Uhr mit zwei Angestellten und einer Praktikantin in einem Großraumbüro säße, wobei das Wörtchen »groß« in diesem Fall nicht wörtlich zu nehmen sei, da sich WorldWideTravel Inc. insgesamt mit einer Fläche von knapp dreißig Quadratmetern begnügen muss, Lager und kleine Küche eingeschlossen. Sie erzählte von ihrem 12-jährigen Sohn Josh, der sich seit einem Jahr strikt weigerte, sie auf ihren Wanderungen zu begleiten, und stattdessen bei Freunden saß und seine Zeit mit Gameboys und Videospielen vergeudete und dass sie längst aufgegeben hatte, ihn zu überreden oder gar mit Versprechungen oder Drohungen dazu zu bewegen, mit ihr zu laufen. Als allein erziehende Mutter müsse man seine Kämpfe sehr sorgfältig wählen. Sie erzählte so viel, dass sie zu spät merkte, wie kalt ihr geworden war, wie der immer heftiger blasende Wind die Feuchtigkeit unter ihre Jacke und durch die Hose getrieben hatte. Sie zitterte. Er bemerkte, wie erbärmlich sie fror, und bot ihr an, sich bei ihm im Haus aufzuwärmen.
    Trotz des anhaltenden Regens marschierten sie los, er vorneweg, sie dicht hinterher, Schutz suchend hinter seinem Rücken. Sie folgte ihm, als er in Yung Shue Wan weit vor dem Fähranleger rechts abbog, sie ein kleines Tal durchquerten und noch einen Hügel erklommen. Sie folgte ihm weiter wortlos auf einem Pfad, der immer schmaler und dunkler wurde, bis sie durch eine Gartenpforte traten und vor einem Haus standen, das vom Weg aus kaum zu sehen war, so versteckt lag es hinter einer Mauer aus Bäumen und Büschen.
    Sie folgte ihm ins Haus und in den ersten Stock, zog ihre nassen Sachen aus und duschte heiß, wie er es ihr geraten hatte, und während das Wasser ihren Körper allmählich wieder erwärmte und der Dampf das Bad füllte, fühlte sie eine Lust in sich wachsen, wie sie sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. Sie wusste, dass sie sich nicht wieder anziehen würde, dass sie ihm in sein Schlafzimmer folgen und in sein Bett schlüpfen würde, dass es keiner großen Künste der Verführung seinerseits bedurfte, damit sie sich ihm hingab. Er würde nur ein Wort sagen müssen, eine Geste, eine Andeutung und sei sie noch so versteckt, würden genügen.
    Stattdessen hörte sie ihn in der Küche klappern.
    Er hatte ihr ein weiches Badehandtuch hingelegt, ein seidenes, langärmeliges Männerunterhemd, einen Pullover, eine abgetragene Trainingshose und dicke Wollsocken, Sachen, die ihr viel zu groß, aber trocken und warm waren. Sie ging leise die Treppe hinunter ins Erdgeschoss, das offensichtlich nur aus dem Eingangsflur, der Treppe in den ersten Stock und zwei großen, lang gestreckten Räumen bestand, in dem einen standen ein langer chinesischer Tisch aus rotbraunem Rosenholz und acht passende Stühle dazu, in der hinteren Hälfte befanden sich zwei Sofas und ein alter, flacher Tisch. Der Fußboden war mit dunkelroten, quadratischen Fliesen belegt, die Wände waren weiß gestrichen, zwischen den Fenstern hingen chinesische Kalligraphien. In den Ecken wuchs in blau-gelben chinesischen Übertöpfen jeweils eine Palme. Ihr fiel auf, wie ordentlich es im Haus war. Hier lag nichts herum, keine Zeitschriften, keine Papiere, keine DVDs, der Boden schien frisch gewischt, der Tisch gerade abgestaubt. Er musste eine fleißige philippinische Putzfrau haben.
    Sie betrat das Zimmer, aus dem das Klappern des Geschirrs kam. Bis auf eine antike Holzliege vor dem Fenster zum Garten und einen alten roten, südchinesischen Hochzeitsschrank mit einem großen, kreisrunden Messingbeschlag war der Raum leer. Er grenzte an eine offene Wohnküche mit einem Holztresen davor. Darauf lagen zwei Gedecke, aus Teetassen stieg Dampf empor, es roch nach Zitronengras und Ingwer. Sie war noch nie in einer Wohnung gewesen, die sie vor so viele Rätsel stellte. Dieser Mann hatte offensichtlich Geld und mochte chinesische Antiquitäten, aber warum wohnte er

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