Das Flüstern der Schatten
einem Ausländer in China selten geschieht.«
»Umso sinnvoller wäre es, die Ermittlungen voranzutreiben anstatt uns zum Nichtstun zu verurteilen.«
»Ich dachte, er hat schon eine Spur und einen Verdächtigen?«
»Richtig. Noch ein Grund, etwas gelassener zu sein, oder?«
Paul wusste nicht, was er antworten sollte, er war sich nicht einmal sicher, ob er über den Fall wirklich noch mehr wissen wollte. Michael Owen war tot, für seine Eltern konnte er nichts weiter tun, und der Mörder ihres Sohnes würde über kurz oder lang gefasst und bestraft werden, so viel Vertrauen hatte Paul in die chinesische Polizei. Er hatte Christine versprochen, sich nicht weiter einzumischen, nicht wieder nach China zu fahren, und dieses Versprechen wollte er halten.
»Du möchtest mit der Sache eigentlich nichts mehr zu tun haben, stimmt’s?«, sagte David, als hätte er seine Gedanken erraten.
Warum schaute er ihn dabei so ärgerlich an?
»Ich wüsste nicht, was ich noch tun könnte«, antwortete Paul ausweichend.
»Zum Beispiel mit mir in die Wohnung von Michael Owen gehen.«
»Ist das dein Ernst?«
David nickte.
»Ich habe keinen Schlüssel.«
»Aber seine Mutter. Wir können uns morgen früh mit ihr verabreden.«
Paul lehnte sich in seinem Stuhl zurück und dachte nach.
»Was willst du da?«, fragte er nach einer langen Pause.
»Irgendjemand war dort und hat etwas gesucht, und der Verdacht liegt nah, dass dieser jemand direkt oder indirekt etwas mit dem Mord an Michael Owen zu tun hat. Woher hatte er einen Schlüssel für die Wohnung? Was hat er gesucht? Vielleicht hat er Spuren hinterlassen, die dir und den Eltern entgangen sind? Ich habe hier in meiner Tasche Michaels Festplatte und Speicherchips, die alle mit Kennworten oder PIN-Nummern gesperrt sind. Möglicherweise hat er sich diese Codes irgendwo notiert oder seine Eltern kennen sie.«
Paul seufzte. »›Es ist der Ausdauernde, der am Ende gewinnt‹. Aus welcher Dynastie stammt diese Weisheit?«
»Aus keiner. Es heißt ›Ausdauer bedeutet Sieg‹«, berichtigte ihn David, »und das hat der Große Vorsitzende Mao gesagt.«
Sie trafen sich am nächsten Morgen um zehn Uhr in der Lobby des Harbour View mit dem Ehepaar Owen. Paul hatte ihnen ganz offen erklärt, dass David noch einmal einen Blick in die Wohnung werfen wollte. Elizabeth Owen hatte sofort zugestimmt, ihr Mann war sehr entschieden gegen diesen Besuch gewesen. Er konnte überhaupt keinen Sinn darin sehen, die Ermittlungen würden doch in Shenzhen geführt, der Mord sei in Hongkong und nicht in China verübt worden, welche Spuren sollten da in der Wohnung zu finden sein. Aber seine Frau hatte sich gegen ihn durchgesetzt.
Paul stellte ihr und ihrem Mann David Zhang vor; sie nahmen dessen Anwesenheit zur Kenntnis, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Schweigend fuhren sie in den achtunddreißigsten Stock, Elizabeth schloss die Wohnungstür auf, führte David und Paul ins Büro und ging dann ins Wohnzimmer. Richard Owen folgte ihnen und blieb in der Bürotür stehen.
»Was ist das hier, eine Hausdurchsuchung?«, fragte er, nachdem sich David an den Schreibtisch gesetzt, mehrere Schubladen aufgezogen und darin gestöbert hatte.
Paul ging in die Knie und blätterte wahllos in Aktenordnern, die verstreut auf der Erde lagen. Er hatte keine Ahnung, wonach er suchen sollte.
David schaltete den Computer an, auf dem Bildschirm erschien die Frage nach dem Passwort. Er blickte Richard Owen fragend an, der schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.« Er schien zu überlegen und sagte dann mit einem Seufzen: »Versuchen Sie es mit seinem Namen.«
Der Computer gab eine Fehlermeldung.
»Oder VinceLombardi. In einem Wort.«
»Vince Lombardi?«, fragte Paul erstaunt.
»Das sähe Michael ähnlich. Er ist Football-Fan, völlig verrückt. Sein Team sind die Green Bay Packers aus Wisconsin, und Lombardi war in den 60er Jahren ihr Meistertrainer. Eine Legende. Sie sind Amerikaner und kennen Vince Lombardi nicht?«
Paul fühlte innerlich einen kurzen, schmerzhaften Stich und sah sich auf die Größe des kleinen, ungelenken Paul Leibovitz schrumpfen, der auf einem New Yorker Schulhof steht und von keiner Baseball-, Football- oder Basketball-Mannschaften gewählt wird, weil er weder schnell laufen noch gut werfen oder fangen konnte und so dürr war, dass er nicht einmal dazu taugte, den Gegenspielern im Weg zu stehen. Die Jungs damals hatten ihn mit der gleichen Mischung aus Mitleid, Erstaunen und Verachtung angeschaut
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