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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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erbarmungsloser Hartnäckigkeit seinen Rücken hinaufkrochen und in wenigen Minuten den Kopf erreichen würden. Der alte chinesische Doktor, den er seit Jahren regelmäßig konsultierte und der ihm mit großer Hingabe abscheulich schmeckende Kräutertees braute und auch noch behauptete, sie würden David guttun, durfte sich wieder einmal bestätigt sehen: Alles hing mit allem zusammen, nichts im Körper und, wie der Arzt gern hinzufügte, im Leben war isoliert zu betrachten. Die Magenprobleme, die Übelkeit, die rheumatischen Beschwerden, ja, selbst das Knie standen im direkten Zusammenhang mit seiner Seele und den Lasten, die sie trug. Der Arzt hatte ihn davon nicht lange überzeugen müssen, und dennoch erstaunte es David immer wieder, wie schnell sein Körper reagierte und wie wenig er ihn, je älter er wurde, überlisten oder täuschen konnte.
    Der Alte behauptete, das sei gut so, der Kommissar könne sich glücklich schätzen, einen so empfindlichen Organismus zu haben, er müsse nur aufhören, dessen Signale zu missachten. David war sich da nicht so sicher. Es gab Tage wie diese, an denen wäre er gern etwas robuster, hätte er lieber einen Körper, der auf die Belastung mit ein wenig mehr Nachsicht reagierte. Er wusste ja, wogegen sein Knie und sein Rücken gerade protestierten: In einem grell erleuchteten, weiß gekachelten Kellerraum im Polizeipräsidium sitzt ein Unschuldiger, der drauf und dran ist, ein Geständnis und damit aller Voraussicht nach sein Todesurteil zu unterschreiben.
    Er hatte, trotz der Hilfe des Taxifahrers, Mühe, das Restaurant seines Bekannten zu finden. Sein letzter Besuch lag mindestens ein halbes Jahr zurück, und die Straße hatte ein anderes Gesicht bekommen. An der Ecke, an der damals ein Grundstück brachgelegen hatte, befand sich jetzt ein großer, gerade eröffneter Supermarkt, eingerahmt von zwei neuen, rosa gekachelten Gebäuden mit vergoldeten Säulen und Schwänen vor den Eingängen, die beiden Häuser, die dort vor sechs Monaten noch gestanden hatten, waren verschwunden.
    Der Restaurantbesitzer begrüßte David freundlich, die junge Frau mit dem Kind musterte er skeptisch. Die Geschichte mit der entfernten Verwandten, die für ein paar Tage ein Bett und möglichst auch einen Aushilfsjob brauchte, glaubte er nicht, das sah David ihm an. Nun schien er in Gedanken zu kalkulieren, welche Vor- und Nachteile ihm aus diesem Gefallen entstehen könnten. Nach kurzem Nachdenken gelangte er offenbar zu dem Schluss, dass die Vorteile überwogen, es konnte unmöglich ein Fehler sein, einem Kommissar einen kleinen Wunsch zu erfüllen. Er führte sie in den ersten Stock. Dort war ein Bett frei, und während das Baby schlief, konnte Tzus Frau in der Küche aushelfen.
    David bedankte sich, lehnte die Einladung zum Essen freundlich, aber bestimmt ab und versprach, sich in den nächsten Tagen zu melden.
    Er hatte gehofft, dass die Schmerzen nach dieser guten Tat wenigstens kurzzeitig ein wenig nachlassen würden, aber er hatte sich getäuscht. Er fühlte sich, als säße ihm jemand im Nacken, der fortwährend auf seinen Schädel einschlug.
    Er ging in den Supermarkt, kaufte eine Flasche Wasser und eine Packung Aspirin und setzte sich in der Fußgängerzone in den Schatten einer meterhohen, prall aufgeblasenen Bierflasche aus Plastik und überlegte, welche Möglichkeiten ihm blieben.
    Ihm flirrten so viele Gedanken durch den Kopf, dass er Mühe hatte, sich zu konzentrieren. Um überhaupt etwas herausfinden zu können, musste er mehr über Michael Owen in Erfahrung bringen. Wer konnte ihm weiterhelfen? Wer wusste, wie Michael Owen seine Zeit in Shenzhen verbracht hatte? War er immer nur für einen Tag aus Hongkong herübergekommen, oder hatte er hier auch übernachtet? Hatte er Bekannte oder Freunde in der Stadt? David hatte keine Ahnung, wo er mit seiner Suche beginnen sollte. Vielleicht wussten seine Eltern mehr, aber die würden nicht mit ihm reden, höchstens mit Paul. Im Computer gab es vermutlich Hinweise auf Kontakte in Shenzhen, aber da hatte er Paul schon um Hilfe gebeten und noch nichts gehört. Eigentlich wollte er ihn nicht noch einmal fragen, nicht aus Stolz, sondern weil Paul ihm deutlich gesagt hatte, dass er mit der Geschichte nichts mehr zu tun haben wollte. Er hatte sich geschworen, das zu respektieren, andererseits gab es niemanden sonst, an den er sich im Augenblick wenden konnte.
    »Was wird mich das kosten?« Ihm klangen die Worte seines Freundes noch im Ohr. Es war ein

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