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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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hat in Shekou ein Restaurant, und darüber liegen zwei Zimmer für seine Kellnerinnen. Da ist oft noch ein Bett frei. Vielleicht braucht er sogar eine Aushilfe. Ich könnte ihn mal anrufen.«
    Sie legte ihr Baby vorsichtig auf ein Kissen und kroch aus dem Bett heraus. Jetzt, da sie stand, fiel ihm auf, wie klein und zierlich Tzus Frau war. Sie mochte Anfang zwanzig sein, unter ihren Augen lagen tiefe, dunkle Schatten, ihre Lippen waren schmal und angespannt, ihr Blick der eines Menschen, der in seinem Leben bisher nicht viel Anlass gefunden hatte, Fremden einfach Vertrauen zu schenken.
    David verstand ihre Furcht. Jedes Jahr verschwanden in China Zehntausende von jungen Frauen über Nacht spurlos, von Fremden mit dem Versprechen auf eine gute Arbeit in eine Falle gelockt. Gut organisierte Banden schmuggelten sie quer durch das Land, verkauften sie an Bauern in entlegenen Provinzen, die sie oft wie Sklavinnen hielten. Zeitungen und Fernsehen waren voll mit solchen Geschichten. Woher sollte sie wissen, dass er nicht zu einer dieser Banden gehörte?
    »Für wie lange brauchen Sie eine Unterkunft?«
    Sie musterte ihn lange und ohne eine Regung im Gesicht, als ob jetzt der Moment gekommen war, in dem sie sich entscheiden wollte, ihm zu glauben oder nicht. Ihre Blicke trafen sich, er fühlte sich unwohl, er hasste es zu lügen oder die Wahrheit zu verschweigen und dachte immer, dass der Getäuschte es sofort merken müsste. Aber für sie war es keine Frage des Vertrauens, so viel konnte er in ihren Augen sehen, sie hatte keine andere Wahl.
    Er wiederholte seine Frage.
    »Das weiß ich nicht. Mein Mann ist vorgestern verhaftet worden. Ich weiß nicht, wann er wieder frei kommt.«
    »Verhaftet?«, fragte David so verwundert wie möglich. Er war kein guter Schauspieler.
    »Ja, verhaftet. Vor zwei Tagen kamen abends drei Polizisten und nahmen ihn mit. Sie wollten mit ihm reden, sagten sie. Ich habe keine Ahnung, worüber. In der letzten Zeit kann er nichts angestellt haben, da ist er krank gewesen.«
    »Krank?« Das Wort war ihm viel zu schnell und laut herausgerutscht, aber sie hatte seine Aufregung entweder nicht bemerkt oder beschlossen, dass es keine Rolle spielt, wer dieser Fremde sei.
    »Irgendetwas mit dem Magen.«
    »Seit wann?«
    Sie überlegte. »Schon eine ganze Weile. In der vergangenen Woche konnte er nicht einmal arbeiten. Er hat die ganze Zeit im Bett gelegen.«

XVI
    Sie fuhren mit dem Taxi den Guangshen Expressway Richtung Shekou. Der Verkehr war mit jedem Kilometer dichter geworden, nun rollten sie nur noch langsam vorwärts und blieben alle paar Meter so abrupt stehen, dass das Maobild am Rückspiegel wild hin und her tanzte. Es war stickig im Wagen, die Klimaanlage blies nur warme Luft in den Fond; sie hatten die Fenster heruntergekurbelt, aber selbst der Fahrtwind war heiß. Aus den Augenwinkeln beobachtete David die junge Frau und ihr Baby. Das Kind dämmerte erschöpft in einer Art Halbschlaf auf dem Schoß der Mutter, die stumm aus dem Fenster blickte. Seine wenigen Fragen nach ihrem Mann hatte sie kurz und schroff beantwortet. Sie tat ihm leid, und er spürte bei ihrem Anblick eine vertraute Schwermut in sich aufsteigen.
    »Dort drüben habe ich gearbeitet«, sagte sie und deutete mit dem Kopf auf ein Fabrikgelände nicht weit von der Autobahn.
    »Was haben Sie dort gemacht?«
    »Flügel bemalt.«
    »Flügel bemalt? Was für Flügel?«
    »Engelsflügel. Wir bekamen kleine, weiße Engel aus Ton geliefert, und die mussten wir dann bemalen. Rote Wangen, blaue Augen, blonde Haare und goldene Flügel. Sie wurden nach Amerika verkauft. Unser Chef behauptete, die Menschen dort würden sie sich an Bäume hängen. Ich weiß nicht, ob das stimmt.«
    »Und?«, fragte David.
    »Was und?«
    »Ich meine, wie war die Arbeit? Wurden Sie anständig behandelt?«, fragte er. Sie drehte sich zu David um und schaute ihn an, als wäre er nicht ganz bei Trost. »Sie stellen komische Fragen.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »War schon in Ordnung. Bin rausgeflogen, als sie merkten, dass ich schwanger war.«
    Sie wandte sich wieder ab und blickte aus dem Fenster.
    David Zhang rutschte auf der Rückbank hin und her und versuchte, eine Position zu finden, in der ihm die Beine nicht ganz so weh taten. Seit die junge Frau ihrem Mann, ohne es zu wissen, ein einwandfreies Alibi gegeben hatte, rebellierte sein Körper. Die Schmerzen im Knie waren mit jeder Minute stärker geworden, er spürte, wie sie langsam, aber mit

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