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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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seltsamer Satz aus Pauls Mund. So kannte er ihn nicht, Paul war kein Mensch, der alles, was er tat, vorher einer Kosten-Nutzen-Kalkulation unterwarf, im Gegenteil, oft zeigte er sich auf eine verstörende Art großzügig. Also musste er sich von David schon sehr bedrängt gefühlt haben, um so zu reagieren. Außerdem war die Frage ja berechtigt. Ihre Chancen, auf eigene Faust den Mörder Michael Owens zu finden, waren minimal, und selbst wenn sie dem Täter auf die Spur kommen würden, wäre es so gut wie unmöglich, ihn vor Gericht zu bringen. Wer immer dahintersteckte, hatte mächtige Freunde in Shenzhen, so viel stand fest.
    Die Schwermut, deren Anfänge er schon im Auto gespürt hatte, wurde mit jeder Minute, die er auf dieser Bank saß und grübelte, größer. Er schloss die Augen und versuchte ruhig zu atmen, eine kurze Meditation, aber sie gelang ihm nicht. Stattdessen sah er wieder die junge Frau mit ihrem Kind vor sich. Das Bild, wie sie mit ihrem Säugling im Arm zusammengekauert auf dem Bett hockte und ihn ängstlich und misstrauisch anstarrte, ging ihm nicht aus dem Kopf. Jetzt wusste er, was ihn an dieser Frau so bewegte: Es war dieses abgrundtiefe Misstrauen, die Verstörtheit, die Einsamkeit in ihren Augen. Sie erinnerten ihn an seinen eigenen ängstlichen Blick in ihrem Alter. Aber er war ein Kind der Kulturrevolution, man hatte ihn gezwungen, Jahre auf dem Land zu verbringen, er hatte Hu sterben sehen und Dinge erlebt, über die er bisher nicht einmal mit Mei oder Paul sprechen konnte. Sie hingegen war ein Kind der neuen Zeit, zwischen ihnen lag mehr als eine Generation und die Wirtschaftsreformen, sie hatte ihr Dorf freiwillig verlassen und war in die Stadt gezogen, um ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. In ihren Augen eine vertraute Angst zu entdecken, erschütterte und verwirrte ihn.
     
    Das plötzliche Klingeln seines Mobiltelefons. David erschrak.
    Die neue Zeit, die alte Angst.
    »Zhang, wo steckst du?« David musste mehrmals schlucken, bevor er etwas sagen konnte.
    »Zhang, verdammt noch mal, hörst du mich nicht?« Los Stimme wurde lauter.
    »Nicht so gut. Der Akku meines Handys ist gleich leer. Ich warte auf ein Taxi. Komm grad vom Arzt, mein Knie...«
    »Wir haben den Mörder, Zhang«, unterbrach ihn sein Chef. »Es war dieser Arbeiter, er hat vor einer Stunde sein Geständnis unterschrieben.«
    David wusste nicht, welche Antwort Lo von ihm erwartete. Glückwunsch, gut gemacht? Lügner? Tzu war es nicht, der hat ein Alibi? Wen deckst du gerade? Ihm fiel weder eine Floskel noch ein chinesisches Sprichwort ein, und so schwieg er.
    »Hast du verstanden, was ich gesagt habe?«
    »Ja.«
    »Zhang?« Los Stimme klang nun scharf, fast drohend.
    »Das... das... das ist ja großartig«, stammelte David.
    »Du kannst es deinem Freund in Hongkong sagen: Die Eltern werden gerade benachrichtigt. Damit ist der Fall abgeschlossen, Zhang.«
    »Das sieht ganz danach aus«, antwortete David.
    »Es sieht nicht danach aus, Zhang. Es ist so.« Nach einer kurzen Pause fragte er: »Kommst du jetzt ins Büro?«
    Wenn er jetzt Nein sagte, wenn er sich jetzt unter irgendeinem Vorwand weigerte, ins Präsidium zu kommen und mit Lo und den Kollegen die Freude über den aufgeklärten Fall zu teilen, dann gab es kein Zurück mehr. Dann musste er sich auf die Suche machen. Er dachte an Mei. Er dachte an seinen Sohn. Er dachte an ihre Wohnung und die gemeinsamen Abendessen und das wunderschöne, zärtliche Lächeln, das er mit seinen Gerichten so oft auf das Gesicht seiner Frau zauberte. Er dachte an die Stunden, die er mit Zheng vor dem Computer verbrachte, an ihre gemeinsamen Schachspiele. Was würde das seine Familie kosten? Hatte er das Recht, ihnen überhaupt irgendeinen Preis aufzubürden? Wenn er, David Zhang, bei den Mächtigen dieser Stadt in Ungnade fällt, wenn sich auch nur einer von denen durch ihn bedroht fühlt, wird auch seine Familie büßen müssen, so ist das in China immer gewesen, so war es auch heute. Er spürte, wie sein Herz heftiger schlug. Hatte er überhaupt eine Chance, etwas herauszubekommen? Am liebsten hätte er einfach auf die rote Taste seines Handys gedrückt und das Mobiltelefon anschließend in den Springbrunnen auf dem Platz am Ende der Straße geworfen. Aber das hätte nichts geändert. Er musste sich entscheiden.
    »Zhang?«
    »Lo«, sagte er mit brüchiger Stimme, »Lo, ich war grad beim Arzt, mein Knie, ich kann kaum einen Schritt machen, du kennst doch meine Probleme.« David

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