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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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atmete tief durch und fuhr fort: »Er meinte, es wäre besser, wenn ich mich in den nächsten Tagen möglichst wenig bewegen würde. Liegen wäre das Beste, hat er gesagt.«
    Jetzt war es Lo, der schwieg.
    Schöpfte er Verdacht? Kalkulierte er, ob David noch Schaden anrichten konnte, oder war er mit seinen Gedanken schon wieder ganz woanders?
    »Hm«, war das Einzige, was David hörte. Schon wieder piepte sein Akku. Er musste sich beeilen.
    »In drei, vier Tagen geht es bestimmt wieder, und wenn irgendetwas los ist, ruft ihr an. Ich liege zu Hause auf dem Sofa.«
    Vielleicht hatte dieser Satz Los Misstrauen zerstreut; vielleicht hatte sein Chef aber auch beschlossen, dass von David ohnehin keine Gefahr drohte, egal, was er anstellte. »In Ordnung. Gute Besserung«, antwortete er und legte auf.
    David lauschte noch eine Weile dem Rauschen, dann steckte er das Handy mit zitternden Händen in die Tasche.
    Hatte er sich wirklich entschieden?
    Säße er jetzt Mei gegenüber, er wäre nicht in der Lage, in Worte zu fassen, warum er tat, was er tat. Weil in Shekou zwischen all den Bars und Bordellen in einem heruntergekommenen Zimmer eine junge Mutter mit ihrem Säugling saß, dessen Vater für einen Mord hingerichtet werden sollte, den er nicht begangen hat? Weil er, David, das Gefühl hatte, mitschuldig zu sein, wenn er nicht versuchte, herauszufinden, wer für dieses Verbrechen verantwortlich ist? Weil er als Buddhist Angst hatte vor dem schlechten Karma, das sich daraus ergab? Weil er in seinem Leben schon mehr als einmal weggeschaut hatte, als ein Unschuldiger gestorben war? Weil ihn drei mickrige, kleine Pfefferkörner noch heute bis in seine Träume verfolgen?
    Nein, das klang ihm alles viel zu ehrenhaft. Er war alles andere als ein Held. Er war ein Mensch, klein und ängstlich, schutzlos und verwundbar. Ein Mensch, der wünschte, er hätte eine Wahl, der wünschte, er könnte sich jetzt verstecken, wegschauen oder »tötet den Verräter« rufen, sobald es ihm befohlen wurde, aber er konnte es nicht. Irgendetwas in ihm revoltierte. So einfach war es, so kompliziert.
    David versuchte Paul zu erreichen, er ließ es klingeln, bis die Mailbox anging, dann brach er den Anruf ab. Er wollte keine Nachricht hinterlassen. Er wollte Paul direkt sprechen und versuchte es wieder und wieder, ohne Erfolg. Wo konnte sein Freund stecken? Warum nahm er nicht ab? Er wollte Mei anrufen und ihr erklären, dass er dringend noch einmal zu Paul hinüberfahren müsse und dass er spätestens morgen wieder zurück sei, aber die Batterie seines Handys war nun endgültig leer. Er würde sich aus Hongkong, von Pauls Telefon aus, bei seiner Familie melden.
    David suchte ein Taxi und sagte dem Fahrer, er solle ihn auf dem schnellsten Weg zum Pier bringen. Von dort konnte er eine der neuen Hochgeschwindigkeitsfähren direkt nach Hongkong nehmen.
    Paul war jetzt der Einzige, der ihm helfen konnte.

XVII
    Der Sturm wühlte das Meer so auf, dass die Yum Kee mit ihrem alten Dieselmotor nur sehr langsam vorankam. Die Fähre war fast leer, und Paul hatte sich, entgegen seiner Gewohnheit, einen Platz am Fenster auf dem oberen Deck gesucht. Die Wellen schlugen dumpf und heftig gegen die Bordwand und ließen das ganze Schiff erzittern. Die weiße Gischt klatschte mit solcher Wucht gegen die Scheiben, dass Paul bei den ersten Brechern reflexartig zusammenzuckte.
    Kaum hatte die Fähre die Spitze Lammas passiert, verschwand die Insel hinter einem Schleier aus Regen, Wind und aufgepeitschtem Meerwasser. An der Steuerbordseite, wo sonst auf diesem Teil der Überfahrt die Lichter Pok Fu Lams und Aberdeens auftauchten, blickte Paul jetzt auf eine tiefschwarze Wand. Alles deutete auf einen Taifun hin. Er hatte versäumt, auf die Nachrichten zu achten, vermutlich hatten die Behörden bereits eine Warnung ausgesprochen.
    Paul fragte sich, ob alle Fenster geschlossen und die Regenabflüsse auf der Dachterrasse frei waren, denn er hatte sein Haus überstürzt verlassen. Selbst sein Handy hatte er in der Eile auf dem Küchentresen liegen gelassen.
    Er wusste nicht genau, was in ihn gefahren war. Er lebte jetzt seit fast drei Jahren allein auf Lamma und war sich immer selbst genug gewesen, hatte die Ruhe und Einsamkeit genossen, hatte sich eingerichtet in seiner Welt und niemals das Gefühl gehabt, irgendetwas oder irgendjemanden zu vermissen, abgesehen von Justin natürlich. Sein Verlangen nach Christine, das Bedürfnis, ihre Stimme zu hören, sie zu sehen, nicht

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