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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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Respekt für den kleinwüchsigen Nachbarsjungen.
    Der Mönch hat sich in das Innere des Tempels zurückgezogen, er hockt in der Meditationshalle inmitten der Verwüstungen, die Beine zum Lotussitz übereinandergeschlagen, die dünnen Hände auf die spitzen Knie gelegt. Er schaut Tang und David an, als wüsste er genau, was nun kommen würde.
    Tang strebt auf den alten Mönch zu, bleibt neben ihm stehen, blickt auf ihn herab, sieht sich im Raum um, deutet auf eine faustdicke Holzstange in der Ecke und fordert David auf, sie ihm zu bringen.
    David gehorcht.
    Tang tritt hinter den Alten und schaut noch einmal zu David herüber. Er sieht konzentriert und gleichzeitig sehr ruhig aus, als wäre er dabei, eine Bewährungsprobe zu bestehen, eine ihm auferlegte Pflicht zu erfüllen, vor der sich ein angehendes Mitglied der Kommunistischen Partei Chinas nicht drücken darf. Nichts Angenehmes, aber etwas, das getan werden muss. Im Namen der Revolution. Im Namen eines neuen Chinas. Im Namen des Großen Vorsitzenden.
    Tang holt aus.
    David schaut zu.
     
    Auf dem Rückweg ins Dorf wechseln sie kein Wort.
    David sagt nichts und begehrt keine Antwort, obgleich die Frage, warum der Mönch sterben musste, ihm einmal kurz durch den Kopf schießt, eine ungeheuerliche Frage, für die er sich sofort schämt und die ihm zeigt, wie wenig gefestigt er ist, wie hart er noch an sich arbeiten muss, um sein dekadentes Denken ganz zu überwinden und ein guter Revolutionär wie Tang zu werden.
    David schweigt, als die anderen fragen, warum sie so spät kommen. Er schweigt, als er Wochen später die offizielle Version der Ereignisse hört. Der Tempel in den Bergen sei schon lange baufällig gewesen und aufgrund seines Alters zusammengestürzt, der darin lebende Mönch sei bei dem Unglück von einem herabstürzenden Deckenbalken erschlagen worden.
    Er schweigt bis heute.
    Er hat über diesen Tag nicht mit Mei gesprochen und nicht mit Paul. Er hat ihn aus seinem Gedächtnis getilgt, so wie die Verbrechen dieser Jahre aus den chinesischen Geschichtsbüchern verbannt wurden. Über zwei Jahrzehnte hatte er überhaupt nicht daran gedacht, war er viel zu beschäftigt mit der Rückkehr nach Chengdu, dem Schulabschluss, dem Umzug nach Shenzhen, mit Mei und seinem Sohn und seiner Polizeiarbeit.
    Es war, als wäre es nie geschehen.
    Fast dreißig Jahre mussten vergehen, bis ihn die Erinnerungen, aus Gründen, die er nicht verstand, doch noch einholten. Zunächst kehrten sie in großen Abständen in den Träumen zurück, in solchen Nächten weckte ihn Mei, weil er weinte oder so laut schrie, dass ihr Sohn davon erwachte. Seit einiger Zeit suchten sie ihn alle paar Wochen, sogar tagsüber, heim, ohne dass David eine Erklärung dafür hatte. Auslöser konnte der Anblick eines Holzbalkens sein, einer Buddhastatue oder auch nur eines alten Mannes, der mit eingefallenen Wangen und Beinen dünn wie Stöcke über die Straße schlich. Das Gedächtnis arbeitet nach seinen eigenen Gesetzen.
    Immer häufiger hatte er in den vergangenen Monaten in die Gesichter von Menschen seines Alters geschaut und gedacht: Was hast du vor fünfunddreißig Jahren getan? Hast du jemanden verraten, oder bist du verraten worden? Bist du Opfer oder Täter gewesen oder beides? Wo sind deine Erinnerungen? Versteckst du sie nur? Wann kommen sie wieder zum Vorschein? Wie hältst du das Schweigen aus?
    Die Gewissheit, dass er auf all diese Fragen nie eine Antwort erhalten würde, ließ ihn regelmäßig an sich selber zweifeln: Bin ich möglicherweise der Einzige, den die Geschehnisse von damals heute noch quälen? Ist es mein Fehler, mein ganz persönliches Versagen, dass ich die Vergangenheit nicht ruhen lassen kann? Bei Millionen von Tätern und Opfern war das eine lächerliche, geradezu absurde Vermutung, versicherte er sich in solchen Augenblicken, aber da über die begangenen Verbrechen öffentlich nicht geredet werden durfte und er selbst bei den Menschen, die ihm am nächsten standen, nicht die Kraft aufbrachte, es zu tun, war er sich nicht sicher, und diese Ungewissheit quälte ihn.
    Welchen Platz mochte jener Tag in Tangs Gedächtnis einnehmen? Hatte er den Mord verdrängt? Verfolgte er auch ihn und wenn ja, in welcher Form? Oder half Reichtum beim Akt des Vergessens? War das Auslöschen von Erinnerungen einfacher, wenn man in einem großen Haus mit Personal lebte? Sich jedes Jahr ein neues, luxuriöseres Auto leistete? In den teuersten Restaurants essen ging, Firmen gründete,

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