Das Flüstern der Schatten
hat keine Ahnung, wohin ihr Weg führt, manche sagen, sie laufen zu einem Schauprozess gegen »bourgeoise Elemente« und »Konterrevolutionäre« in den nächsten Ort, andere sagen, ihr Ziel sei der alte Tempel weiter oben im Tal. Ihm ist es egal, wohin sie gehen, er will nur dabei sein.
Nach einem langen Marsch, er weiß nicht mehr, wie weit sie gelaufen sind, erreichen sie endlich ihr Ziel. Der Tempel liegt versteckt hinter einem Bambushain, er ist nicht groß, zwanzig mal zwanzig Meter vielleicht, und von einer Mauer mit einem mächtigen Holztor umgeben. Das Tor ist verriegelt, und die jungen Männer und Frauen sind darüber aufgebracht, wer wagt es, ihnen, der Avantgarde, der Speerspitze der großen proletarischen Kulturrevolution, den Weg zu versperren? Sie rufen, sie brüllen, sie fordern Einlass, und mit jeder Minute, in der ihnen der Zutritt verwehrt bleibt, werden sie wütender. Sie rütteln am Holztor. Sie versuchen vergeblich, die Mauer zu übersteigen. Sie werfen mit Steinen auf die grün glasierten Dachziegel des Tempels und feiern jeden Treffer, der einen Ziegel zerschlägt, mit lautem Jubel. Plötzlich wird von innen der schwere Eisenriegel zur Seite geschoben. Vor das Tor tritt ein Mönch, der einzig verbleibende Bewohner des Tempels. Er ist ein Greis, gehüllt in ein schmutziges, graues Tuch, ausgemergelt, mit kahl geschorenem Kopf und Beinen dünn wie Stöcke. Seine Wangen sind eingefallen, die Augen liegen tief in ihren Höhlen, an seinem Kinn wächst ein dünner, langer Bart. Die Jugendlichen erschrecken bei seinem Anblick. Sie weichen zurück und verstummen, unschlüssig, verunsichert, ob es sich bei diesem Alten wirklich um das dekadente bourgeoise Element, den Konterrevolutionär, den Revisionisten handelt, der sich hier versteckt halten soll.
Der Anführer der Gruppe reckt eine Faust in die Luft und ruft: »Lange lebe der Große Vorsitzende Mao«. Er sieht den Zweifel in den Gesichtern der anderen, er spürt, dass sie jetzt jemanden brauchen, der ihnen sagt, was sie zu tun haben, dass sie geführt werden müssen. Er stößt den Mönch zur Seite und befiehlt, den Tempel zu stürmen. Nun drängen sich alle hinein, schieben sich voller Ungeduld durch die Tür, als gäbe es nicht Platz für jeden. David ist mittendrin. Er ist erregt, er spürt, dass etwas Aufregendes passieren wird, und er ist froh, dabei sein zu dürfen.
Die Ersten dringen in die Meditationshalle ein, sie schleppen Bücher, Manuskripte, Wandtafeln und Buddhastatuen in den Hof und werfen sie auf einen Haufen. Andere haben die Schlafecke des Mönchs entdeckt, scheißen auf sein Lager, werfen seine Aufzeichnungen auf den Berg im Hof und zünden ihn an. Flammen schießen hoch.
Der Alte steht reglos daneben, ohne ein Wort zu sagen. In seinen Augen flackert noch nicht einmal Angst. Sein Schweigen macht die Meute nur noch wütender. Sie zertrümmern die Meditationshalle, sie reißen Schnitzereien von den Wänden, sie verbrennen jeden Buddha, jede Skulptur, die ihnen in die Hände fällt, und was nicht brennen will, schmieren sie mit Fäkalien ein. Nur den Mönch selbst rühren sie nicht an. Seine Ruhe, seine demonstrative Gelassenheit ist ihnen unheimlich.
Irgendwann erlahmen ihre Kräfte, die Ersten hocken erschöpft zwischen den Trümmern auf der Erde, sie haben sich ausgetobt, die Krieger der Kulturrevolution sind müde vom Kampf gegen das »alte Denken«, das in diesem Tempel hauste, und machen sich schließlich auf den Weg zurück ins Dorf. Nur ihr Anführer bleibt und mit ihm David.
Die beiden verharren im Hof und schauen sich an. Der 18-jährige Tang Ming Qing ist kräftig und überragt David um mehr als einen Kopf. Er hat markante Gesichtszüge und sieht so gut und stark und selbstbewusst aus, als wäre er einem Propagandaposter der Kommunistischen Partei entsprungen. David wird unsicher, er weiß nicht, was Tang vorhat und ob er ihn dabeihaben will. Warum folgt er nicht den anderen? Bleibt er aus Neugierde? Oder möchte er Tang behilflich sein, ihm einen Dienst erweisen, was auch immer dieser plant? Schließlich kennt er ihn seit Jahren, sie sind in Chengdu in derselben Straße aufgewachsen, sie haben vor der Kulturrevolution dieselbe Schule besucht, und als David vor sechs Monaten mit seiner Gruppe im Dorf ankam, war Tang auch da und der Einzige, den er kannte. Zu einer Freundschaft hat es trotzdem nicht gereicht, wird es nie reichen, dafür ist David zu still und Tang zu laut, dafür mangelt es dem Älteren an jedem
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