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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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Kulturrevolution verloren gegangen war. Außerdem faszinierte ihn der buddhistische Gedanke, dass er selbst für sein Schicksal verantwortlich war, dass er auf dem Weg zur Erleuchtung keinen Gott, keinen Heiligen, keinen Großen Vorsitzenden anbeten musste. Das, so hatte er sich geschworen, wollte er nie wieder tun.
    Aus diesem Grund saß er jetzt auch nicht im Polizeipräsidium und feierte mit den Kollegen. Er hatte zwei Mal tatenlos zugesehen, wie Unschuldige hingerichtet wurden, er würde es nicht ein drittes Mal tun. Um nichts in der Welt.
    Aber wo war jetzt sein Platz? Bei Mei in der Küche? Wird es ihrer Liebe Abbruch tun, wenn sie die Wahrheit erfährt? Vermutlich nicht, aber würde sie ihn verstehen? David war sich nicht ganz sicher. Sie war zehn Jahre jünger als er, die schlimmsten Jahre der Kulturrevolution hatte sie als kleines Kind erlebt, und soweit David wusste, war ihre unpolitische Familie von Säuberungsaktionen verschont geblieben. Auch war sie nie Augenzeugin von öffentlichen Schändungen oder Hinrichtungen geworden, die sie traumatisiert haben könnten. Zumindest hat sie nie davon gesprochen. Aber was bedeutete das schon, dachte David nun, das Gleiche vermutete sie wahrscheinlich von ihm.
    Wo war sein Platz? Bei Tang im Büro? Dafür hatte er die Kraft nicht. Noch nicht. David kannte aus Zeitungen genügend Fotos von Tang, um zu wissen, dass er nichts von seiner Ausstrahlung eingebüßt hatte. Die kräftige Statur, die aufrechte Körperhaltung, das markante Gesicht, die selbstbewussten Augen, sie ließen ihn auf jedem Bild wie der natürliche Mittelpunkt seiner jeweiligen Umgebung aussehen. Würde er, David, diesem Blick heute standhalten können? Es war nur eine Frage von Tagen, bis sie sich wieder gegenüberstehen würden, und wenn es soweit war, musste er gut vorbereitet sein. Sonst... sonst? Gab es eine Möglichkeit, dass Tang wieder Macht über ihn gewinnen konnte? Eine abstruse Idee, er hatte in den vergangenen Jahren häufig genug seinen Mut bewiesen, jedes Geschenk, das er als Polizist ablehnte, war ein Beweis seiner Courage, aber jetzt war der Gedanke in seinem Kopf, dort nistete er sich in Windeseile ein und wollte daraus auch nicht wieder verschwinden, egal wie lächerlich ihn David finden mochte.
    Victor Tang wusste, wo man Menschen treffen muss, um sie zu vernichten.

XX
    Der Abschied von Christine war ihm schwergefallen, viel schwerer, als er es sich eingestehen wollte. Sie besaß diese außergewöhnliche Fähigkeit, ihn immer wieder zu überraschen, und je häufiger sie das tat, umso stärker fühlte er sich zu ihr hingezogen. Er hatte mit Vorwürfen wegen des gebrochenen Versprechens gerechnet, mit Tränen oder Drohungen, und er hätte ihr solche Reaktionen nicht einmal übel genommen. Er kannte ihre Angst. Stattdessen wollte sie nicht einmal eine Erklärung. Ich liebe dich. Das genügt. War es wirklich so einfach? Paul fragte sich, ob ihm die Liebe jemals so eine Kraft verleihen würde.
    Christine war eine ganz besondere Frau, und viel länger durfte er nicht an sie denken, sonst würde die Sehnsucht zu stark, die Versuchung umzukehren zu groß. Er wollte sich jetzt auf seine Recherchen für David konzentrieren. Je zügiger er damit begann, desto früher konnte er zurück nach Hongkong.
    Er lief vom Bahnhof aus die Jianshe Road hoch, seine eiligen Bewegungen sollten jeden abschrecken, der ihm saubere Schuhe, billige Hotelzimmer, Massagen oder Frauen anbieten wollte. Die wenigen, die es trotzdem taten, ignorierte er oder schüttelte sie mit einer kräftigen Armbewegung ab. Warum mochte Michael Owen das Century-Plaza gewählt haben? Es gehörte zwar zu den ältesten und besten Hotels in Shenzhen, wurde aber vor allem von chinesischen Geschäftsleuten bevorzugt. Besucher aus Hongkong und dem Ausland stiegen lieber in den Häusern der ihnen vertrauten Ketten Holiday Inn oder Shangri-La ab.
    Ein uniformierter Page öffnete die Tür, deutete eine Verbeugung an und begrüßte ihn mit einem lauten »Welcome, Sir«.
    An der Rezeption erklärte er bei der Registrierung, dass ihm sein guter Freund Michael Owen das Hotel empfohlen habe, aber die Erwähnung dieses Namens rief keinerlei Reaktionen hervor. Paul fragte, ob es wohl möglich wäre, das Zimmer zu bekommen, welches Herr Owen bei seinen Besuchen immer bewohnt. Leider wisse er die Zimmernummer nicht, aber vielleicht könne ja ein Blick in den Computer weiterhelfen.
    Der Rezeptionist hackte, ohne aufzublicken, auf seiner

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