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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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Fabriken baute, Wohnungen kaufte und verkaufte, rastlos von einer Verhandlung zur nächsten durch das Land flog, ein oder zwei Geliebte aushielt, die jederzeit mit ihren jungen Körpern für Ablenkungen zur Verfügung standen? Konnte der Mensch auf diese Weise seiner Vergangenheit entkommen?
    David dachte an die Geschwindigkeit, mit der sich das Gesicht seines Landes veränderte. Er dachte an Chengdu, Chongqing, Shanghai, Wuhan, all die Städte, die er in den vergangenen Jahren besucht und nicht wiedererkannt hatte, weil man die alten Quartiere in den Innenstädten niedergewalzt und an ihrer Stelle einen Wald von Hochhäusern errichtet hatte. Jahrhundertealte Zeugnisse der Vergangenheit waren in diesen Städten in kürzester Zeit ausgelöscht worden. Vom Erdboden verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. In solchen Momenten erschien ihm diese ungezügelte Bauwut, das ungeheuerliche Tempo der Veränderung wie der verzweifelte Versuch, der Geschichte zu entfliehen, und die neuen Hochhäuser, Straßen, Autobahnen, Flughäfen, Fabrikhallen waren weniger Zeichen des Fortschritts als gigantische Mahnmale des Vergessenwollens.
    Als könnte man Erinnerungen einmauern. Als könnte man sie wegbetonieren und zupflastern. Als könnte man seinen eigenen Schatten hinter sich lassen, wenn man nur schnell genug lief.
    Es war, David spürte es am eigenen Leib, ein lächerliches, zum Scheitern verurteiltes Bemühen. Zum ersten Mal verstand er, welche Macht diese Tat auch fast vierzig Jahre später noch über ihn hatte. Er war Augenzeuge eines Mordes geworden. Hätte er ihn verhindern können? Tang die Holzstange verweigern? Sich auf ihn stürzen, während er ausholte? Möglicherweise hätte er den Mönch retten können, aber um welchen Preis? Entweder hätte Tang ihn, Zhang, totgeschlagen, oder er hätte sich vor den Roten Garden oder der Partei verantworten müssen für seine verabscheuungswürdige Tat, er wäre, kein Zweifel, zumindest verstoßen worden. Für jemanden, der einem alten buddhistischen Mönch das Leben rettet, wäre im neuen China kein Platz gewesen.
    Er sah den 16-jährigen Zhang vor sich, der in der Meditationshalle steht und beobachtet, wie Tang den Stock mit seinen kräftigen Händen fest umklammert, die Arme hebt, höher und höher, den Oberkörper verdreht wie eine Feder, die sich spannt. Er sah das Holz durch die Luft schnellen, und er sah, wie mit einem Schlag alles zerbricht: der Glaube an den Großen Vorsitzenden und die Partei, an die permanente Revolution und ihre jungen Krieger, und viel schlimmer noch, der jugendliche Glaube an die eigene Unschuld. Zerstört, im Bruchteil einer Sekunde, ohne dass er es in dem Moment überhaupt begriffen hätte. Bis heute war er damit beschäftigt zu ermessen, was dieser Schlag angerichtet hatte.
    Er empfand keine Schuld, nur Scham, unendliche Scham über die eigene Schwäche und Unzulänglichkeit, über seine Verführbarkeit und vor allem die Feigheit, die in ihm wohnte und die damals ihr hässliches Gesicht gezeigt hatte. Eine Fratze, die er auf Dauer nicht vergessen konnte. Verdrängen, dachte er, verdrängen war eine Zeit lang möglich, aber nicht vergessen.
    Die Scham hatte ihn, ohne dass er den Zusammenhang gleich verstand, zu Buddhas Lehren geführt. Ein Jahr nach dem Mord am Mönch sah Zhang den alten Koch Hu sterben, und sein Tod war das Erlebnis, das ihn allmählich begreifen ließ, welche Ungeheuerlichkeiten vor seinen Augen geschahen. Zu Tode geprügelt wegen drei lausiger Pfefferkörner. Den störrischen Hu hatte er gemocht, an ihn musste er in den folgenden Jahren immer wieder denken, während der Mönch tief in seinem Gedächtnis vergraben lag. Deshalb verstand er auch nicht, warum er sich nach der Kulturrevolution so zu Tempeln und buddhistischen Mönchen hingezogen fühlte. Wie ein Täter, den es unbewusst immer wieder zum Ort seines Verbrechens zwingt. Bei ihnen suchte er Antworten auf die Fragen, die ihn umtrieben: Wie war dieser Ausbruch an Gewalt möglich geworden? Wie konnten Schüler gegen ihre Lehrer aufbegehren, Kinder ihre Eltern verraten, wie war es möglich, dass zwei Säulen der chinesischen Kultur innerhalb von Wochen einfach einstürzen? Wie hatte er sich daran beteiligen können, warum war er so leicht verführbar gewesen?
    Darauf fand er auch im Buddhismus keine Antworten, aber diese Lehre gab ihm klare und einfache Anleitungen, Verhaltensregeln, eine Art moralischen Kompass, der, so empfand er, in China spätestens mit der

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