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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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ist alles in Ordnung?«
    »Es geht schon, ich hatte mich gerade hingelegt. Wo steckst du?«
    Paul erzählte ihm von seinem Gespräch mit Pu.
    »Kennst du die Diamond-Villen?«, fragte er am Ende seines Berichts.
    »Ja. Sie liegen in der Nähe des Silver Lakes, wenn ich mich nicht irre. Es ist eine dieser neuen Siedlungen, wie sie heute überall in Shenzhen entstehen. Golden Dream, Honey Club, Rich Manós World und wie sie noch alle heißen. Ziemlich teures Pflaster, große Stadthäuser und Luxuswohnungen, die meisten gehören Beamten und Parteifunktionären aus dem Norden, die hier ihre Schmiergelder anlegen. Den Rest kaufen, soweit ich weiß, Geschäftsleute aus Singapur und Hongkong als Investition oder für ihre Geliebten.«
    »Warst du schon mal dort?«
    »Nein. Die haben alle ihre privaten Sicherheitsdienste, wir haben da nicht viel zu tun. Sie sind mit hohen Mauern geschützt, und der Zugang wird bei den meisten strikt kontrolliert.«
    »Klingt wie die Verbotenen Städte von heute«, meinte Paul.
    »Für die neuen kleinen Kaiser, ganz richtig.«
    »Komme ich da rein?«
    »Du? Als Ausländer solltest du kein Problem haben. Du setzt die arroganteste Wagen-Sie-bloß-nicht-mich-anzusprechen-Sie-kleiner-nichtsnutziger-chinesischer-Wachmann-Miene auf und gehst mit entschlossenen Schritten an der Schranke vorbei, dann werden sie dich in Ruhe lassen. Nur nicht so zögerlich und fragend dreinschauen, wie du es sonst so gern tust. Das wäre nicht der geeignete Augenblick, um nachdenklich oder einfühlsam zu wirken.«
    »Ich freu mich, dass du wieder in der Stimmung bist, mich zu ärgern.«
    »War nur ein Tipp für meinen Hilfskommissar. Im Ernst: Soll ich nicht lieber mitkommen?«
    »Nein. Wenn wir zu zweit auftauchen, wird das die Dame nur noch mehr einschüchtern. Ich denke, ich habe bei Pu meine Rolle als Freund Michael Owens ganz überzeugend gespielt. Warum sollte mir das bei Anyi nicht auch gelingen. Glaubst du, dass ihr schon jemand verraten hat, dass Michael tot ist?«
    »Ich wüsste nicht wer. Außerdem hätte sie dann mit Sicherheit ihrer Freundin etwas erzählt.«
    »Stimmt. Da siehst du wieder, mit was für einem Amateur du es zu tun hast. Ich ruf dich morgen an, sobald ich wieder im Hotel bin.«
    Die Nacht war grauenvoll. Zunächst konnte Paul nicht einschlafen, weil die Männer im Nachbarzimmer, soweit er ihr Gebrüll verstehen konnte, einen Vertragsabschluss mit einer Party feierten. Kaum war er endlich eingenickt, weckte ihn ein Klopfen an der Tür, und als er arglos öffnete, stand vor ihm eine rundliche, mit einer Art schwarzem Lederbikini bekleidete junge Frau, die in ihren Händen Papiertücher und eine Ölflasche hielt und wissen wollte, ob er »Room Service« wünsche. Da war es drei Uhr fünfzig.
    In den folgenden Stunden war er zu aufgeregt, um fest zu schlafen. Wie sollte er sich Anyi gegenüber vorstellen? Als Gesandter der Familie, der nach dem verschwundenen Michael sucht? Als Freund Michaels, der zufällig vorbeischaut? Er musste intuitiv entscheiden, welche Rolle er spielen wollte, und das bedeutete, dass er auf mögliche Fragen ihrerseits schlecht vorbereitet war. Er blieb bis kurz nach acht dösend im Bett liegen, aß ein kaltes, völlig versalzenes Rührei zum Frühstück und nahm ein Taxi zu den Diamond-Villen.
    Paul fuhr am Eingangstor der Siedlung vorbei, bat den Fahrer, in die nächste Querstraße einzubiegen und ihn dort abzusetzen.
    Die Siedlung war von einer mindestens drei Meter hohen Mauer umgeben, auf deren Sims Glasscherben einbetoniert waren. Eine Schranke versperrte die Einfahrt, daneben stand ein kleines Häuschen, in dem zwei Wachmänner saßen. Paul war überhaupt nicht nach einer Wagen-Sie-bloß-nicht-michanzusprechen-Sie-kleiner-nichtsnutziger-chinesischer-Wachmann-Miene zumute.
    Er ging an der weiß getünchten Mauer entlang. Zwei große Limousinen kamen aus der Ausfahrt, mehrere Frauen verschwanden mit Einkaufstüten durchs Tor. Er bemerkte gleich seinen ersten Fehler. Nur Hausangestellte kamen zu Fuß in die Diamond-Villen, wer dort lebte, fuhr selbstverständlich im klimatisierten Wagen vor.
    Es waren nur noch wenige Schritte bis zur Schranke, er drückte den Rücken durch, streckte die Brust heraus, versuchte sich im aufrechten Gang, strich noch einmal durch die verschwitzten Haare und würdigte die Wachposten keines Blickes. Sollten sie es nur wagen, ihn anzusprechen oder aufzuhalten.
    Sie wagten es nicht.
    Er atmete erleichtert auf und ging eine lang gezogene

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