Das Flüstern der Schatten
Computertastatur herum und schüttelte dann den Kopf. Er konnte keinen Eintrag finden. Paul musste »Owen« mehrfach buchstabieren und war froh, dass Michael nicht Abramowitsch mit Nachnamen hieß.
Nach einer Weile hellte sich die Miene des jungen Mannes auf, Owen, Michael, da war er, bei seinen Übernachtungen hatte er häufig in der Junior Suite 1515 geschlafen, nun war er aber schon länger kein Gast im Hotel mehr gewesen.
Wo in Shenzhen hatte Michael Owen die Nacht vor seinem Tod verbracht, wenn nicht in seinem angestammten Hotel?
Paul insistierte, ob da nicht möglicherweise ein Irrtum vorliege, er sei sich ziemlich sicher, dass sein Freund noch vor ein paar Tagen hier gewohnt habe.
Ausgeschlossen. Sein letzter Aufenthalt lag fast auf den Tag genau sechs Monate zurück, davor war er in der Tat ein regelmäßiger Gast gewesen.
Die Junior-Suiten waren alle ausgebucht, die De-Luxe-Zimmer ebenfalls, und so saß Paul wenige Minuten später in einem kleinen, fürchterlich nach Zigarettenqualm stinkenden Nichtraucher-Zimmer, aus dessen Fenster er auf Bahngleise, eine Schnellstraße und zwei Baustellen blickte. Im Badezimmer tropfte ein Wasserhahn, aus dem Nebenzimmer zu seiner Linken hörte er die lauten Stimmen mehrerer Chinesen und einen Fernseher. Er dachte an Lamma und die Blumen für Christine und die Flasche Champagner im Kühlschrank und beschloss, sich massieren zu lassen, bevor er in die Disco ging, um auf andere Gedanken zu kommen.
Das Emperor’s Paradise lag im Keller des Hotels. Paul hatte keine Ahnung, worauf er sich da einzulassen im Begriff war. Als er Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre durch China gereist war, hatte es weder erotische Massagesalons noch Bordelle gegeben oder sie waren für Ausländer tabu und lagen so versteckt, dass er sie nicht bemerkt hatte. War das Emperor’s Paradise ein seriöser Massagesalon, oder würden die Hände der Masseurin nirgendwo halt machen? Wie wird sie reagieren, wenn er jede erotische Spielerei ablehnt? Konnte er nach Michael Owen fragen, ohne Aufsehen zu erregen?
Vier junge, groß gewachsene Frauen in langen, pinkfarbenen Abendkleidern und mit weißen Plastikperlen im künstlich gelockten Haar begrüßten ihn. An ihren aufgeregten Gesichtern sah er, dass ein Gast aus dem Westen hier exotisch war. Ein Mann in schwarzem Anzug trat hinzu, er lächelte, aber es war eines dieser chinesischen Lächeln, das mehr einem Zähnezeigen glich als einer freundlichen Geste und hinter dem sich Misstrauen und Unsicherheit verbargen. Der Mann versuchte mühsam, einen Satz auf Englisch zu formulieren, und atmete erleichtert auf, als er hörte, dass Paul Chinesisch sprach.
»Ein guter Freund, Michael Owen, hat mir ihren Salon empfohlen«, sagte Paul so gelassen, wie es ihm möglich war.
»Wir freuen uns, einen Freund von Herrn Owen bei uns im Haus begrüßen zu dürfen«, antwortete der Mann noch etwas förmlich, aber schon entspannter. Die Empfangsdamen kicherten und tuschelten etwas, das Paul nicht verstand. War Michael Owen wirklich allen ein Begriff, oder taten sie nur aus Höflichkeit so, als würden sie ihn gut kennen?
»Michael schwärmt von ihren Massagen.« Paul wunderte sich nun selbst über seine schauspielerischen Fähigkeiten.
»Das freut mich. Ich vermute, in dem Fall möchten Sie auch von Nummer 77 massiert werden?«, erwiderte der Chinese.
»Sehr gern, Michael hat sie mir ans Herz gelegt«, antwortete Paul so selbstverständlich, als käme eine andere Dame überhaupt nicht in Frage.
»Dann folgen Sie mir bitte.«
Sie schritten an einem kleinen Springbrunnen und mehreren Engelsskulpturen aus Gips vorbei in einen Umkleideraum. Dort überließ der Mann Paul zwei Pagen, die ihm beim Entkleiden halfen, seine Sachen zusammenlegten und in einem nummerierten Schrank verstauten. Sie zogen ihm einen Bademantel über und führten ihn in eine Art Therme mit zwei Schwimmbecken, Duschen und Saunen. In einem Whirlpool lagen mehrere Chinesen, sie unterhielten sich, blickten kurz auf, musterten Paul kurz und redeten dann weiter.
Paul setzte sich für einige Minuten in eine Sauna, er wollte sich überlegen, wie er am besten das Gespräch mit Nummer 77 begann. Aber war zu unruhig, um sich zu konzentrieren. Er duschte und ging in den Ruheraum.
Hier lag in fast jedem der großen Schlafsessel ein Gast, manche mit geschlossenen Augen, andere unterhielten sich flüsternd oder blickten auf einen der vier Flachbildschirme an den Wänden, über die aktuelle
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