Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
Vom Netzwerk:
Einfahrt hinauf und schaute sich um. Auf den ersten Blick hatte diese Anlage nichts mit der Welt vor ihren Toren gemein; in ihrer exklusiven Abgeschiedenheit erinnerte sie ihn tatsächlich an die Verbotene Stadt. Es gab einen ordentlich gepflasterten Bürgersteig, auf den Straßen lag kein Müll, die Rasenflächen zwischen den Wegen waren frisch gemäht, die Häuser gepflegt. Die Siedlung bestand aus acht größeren Wohnhäusern, die nach Edelsteinen benannt waren.
    Er fragte eine der Frauen mit den Einkaufstüten, ob sie wisse, wo Michael Owen wohnt. Als Antwort erhielt er einen verständnislosen Blick. Er beschrieb Michael in ein paar Sätzen, und plötzlich wusste sie, wen er meinte. Der junge Amerikaner lebe im obersten Stock des Saphire. Paul möge durch die Garage gehen, von dort führe ein Fahrstuhl direkt zum Penthouse hinauf.
    In der Tiefgarage hätte ihn um ein Haar ein Porsche-Geländewagen überfahren, der zwischen einem Ferrari und einem Mercedes hervorgeschossen kam.
    An den Klingelschildern standen Nummern statt Namen, er drückte den obersten Knopf und wartete.
    »Hallo?« Eine strenge Frauenstimme.
    »Ich suche Michael Owen.«
    »Er ist nicht da. Wer sind Sie?«
    »Paul Leibovitz, ein Freund von Michael aus Hongkong.«
    »Sind Sie Chinese?«
    »Nein, Amerikaner.«
    »Wer sind Sie?«, wiederholte sie mit einem starken Akzent auf Englisch, als könnte sie am Tonfall seiner Antwort erkennen, ob er wirklich Ausländer war.
    »Ich heiße Paul Leibovitz und bin ein Freund von Michael und der Familie Owen und muss dringend mit Ihnen sprechen«, antwortete er langsam auf Englisch, jedes Wort deutlich betonend.
    Für einen langen Moment herrschte Stille, dann ertönte ein helles Summen, und die Tür sprang auf.
    Sie erwartete ihn direkt am Fahrstuhl, Paul erkannte ihr Gesicht sofort, wobei sie in Wirklichkeit noch weitaus schöner war als auf den Fotos. Ihre Gesichtszüge waren feiner, ihre Haut blasser. Mit ihren hohen Wangenknochen, dunkelbraunen, mandelförmigen Augen und kräftigen, geschwungenen Lippen entsprach sie dem Klischee einer chinesischen Schönheit. Sie war überraschend groß und schlank, ohne dabei dürr auszusehen, hatte ihre Haare zu einem Knoten hochgesteckt, den ein Chopstick zusammenhielt, und trug eine weite graue Jogginghose und ein Sweatshirt mit der Aufschrift »N.Y.U.«
    Sie musterte ihn einen Augenblick mit misstrauischen Augen und trat dann, ohne ein Wort zu sagen, zur Seite. Paul schritt an ihr vorbei in die Wohnung. Sie schloss hinter ihm die Tür und führte ihn ins Wohnzimmer.
    Das Zimmer war hell, es hatte eine große Fensterfront mit einer Terrasse davor, von wo der Blick über das Wasserreservoir zu den gegenüberliegenden Hügeln reichte. An der Wand stand ein schwarzes Ledersofa, davor ein kleiner ovaler Tisch mit einem Strauß Plastikblumen, gegenüber hing ein großer Flachbildschirm. Auf der anderen Seite des Zimmers befand sich eine Kochecke, davor ein hoher Esstresen mit vier Barhockern. Anyi setzte sich auf einen der Hocker, verschränkte die Arme vor der Brust und sagte jetzt wieder auf Mandarin: »Ich habe Ihren Namen nicht verstanden.«
    »Paul Leibovitz.«
    »Was wollen Sie von mir?«, fragte sie in schroffem Ton.
    »Ich bin auf der Suche nach Michael Owen.«
    »Wer schickt Sie?«
    Paul schwieg. Er fragte sich, ob sie wirklich so forsch und selbstsicher war, wie sie auftrat, oder ob sie damit nur Angst und Unsicherheit verbergen wollte.
    »Seine Mutter. Sie macht sich Sorgen.«
    »Sind Sie Polizist?«
    »Nein. Ein Freund der Familie.«
    Sie warfen einander misstrauische Blicke zu. Dies war kein lockeres Massagegespräch, bei dem Paul bluffen konnte. Hier saßen sich zwei Menschen gegenüber, die sich belauerten, vorsichtig agierten und nur auf ein Zeichen der Schwäche beim anderen warteten. Er hatte keine Ahnung, ob er aggressiv auftreten oder eher einfühlsam um ihr Vertrauen werben sollte. Sie wirkte weder wie ein Mensch, der leicht einzuschüchtern war, noch wie jemand, der schnell vertraute, und auf keinen Fall war sie, wie David beim Anblick ihrer Fotos vermutet hatte, eine dieser Karaoke-Bekanntschaften. Die jungen Frauen, die dort in der Hoffnung arbeiteten, dass einer ihrer wohlhabenden Kunden sie zu seiner Geliebten machte, gehörten in den meisten Fällen zu den Wanderarbeiterinnen, die in die großen Städte strömten, zunächst in Fabriken schufteten, von wo aus die Schönsten unter ihnen irgendwann in die ungleich besser bezahlten Jobs in den

Weitere Kostenlose Bücher