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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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lassen.
    »Sie können sich jetzt umdrehen«, sagte sie.
    Nein, das ging in diesem Moment nicht, in seinem Zustand konnte er unmöglich auf dem Rücken liegen. »Das mache ich gleich. Ich habe oft starke Schmerzen in den Schultern«, sagte er entschuldigend. »Können Sie da noch ein wenig massieren?«
    Sie ging zum oberen Ende der Bank und strich ihm durch seine weißen, lockigen Haare und über die dicht behaarten Arme. Sein kräftiger Haarwuchs hatte bisher jede Chinesin, die er kennen gelernt hatte, fasziniert. »Sie sind älter als Michael, oder?«
    »Ja, um einiges«, sagte er lachend. Wollte sie ihm ein Kompliment machen, oder konnte sie sein Alter wirklich schlecht schätzen?
    »Ich bin eigentlich auch mehr ein Freund seines Vaters, durch ihn kenne ich Michael.«
    »Seines Vaters?« Ihre Stimme klang ungläubig, fast erschrocken. Wenn ihm jetzt keine gute Erklärung einfiel, würde er von ihr kein Wort mehr erfahren. »Ich meine, früher war ich ein Freund seines Vaters.«
    »Früher? Sie meinen vor dem großen Streit?«
    »Genau. Vor dem Streit«, antwortete er und hoffte, dass sie die Erleichterung in seinem Ton nicht hörte. »Danach war der alte Owen selbst für seine Freunde schwer zu ertragen. Kennen Sie ihn?«
    »Nein. Nach allem, was Michael erzählt hat, möchte ich auch nicht seine Bekanntschaft machen.«
    »Und seine Mutter?«
    »Auch nicht.«
    Paul schwieg eine Weile, während Pu ihm die Schultern, den Nacken und den Kopf massierte.
    »Ich sehe ihn übrigens heute am späteren Abend noch«, sagte er plötzlich, ohne darüber lange nachgedacht zu haben.
    »Wen?«
    »Na, Michael.«
    »In Hongkong?«
    »Nein, hier in Shenzhen.«
    »Kommt er ins Century-Plaza?«
    »Nein.«
    »Fahren Sie zu ihm in die Wohnung?«
    »Ja, wahrscheinlich.«
    »Dann werden Sie ja auch Anyi kennen lernen.«
    »Ich hoffe. Michael wollte mich noch anrufen. Wie lange brauche ich mit dem Taxi zu ihm?«
    »Eine knappe halbe Stunde, schätze ich.«
    »So lange?«, fragte er.
    »Am Tage bräuchten Sie die doppelte Zeit.«
    »Gibt es keine Abkürzung?«
    »Zu den Diamond-Villen? Welche Abkürzung wollen Sie da nehmen? Wenn zu starker Verkehr ist, achten Sie darauf, dass der Taxifahrer nicht die Baoan hochfährt, sondern die Hongling Road nimmt, da ist weniger los. Sagen Sie ihm, er soll noch über die Nigang Road West rüber, danach links abbiegen, am Krankenhaus vorbei und vor dem Wasserreservoir rechts, dann sehen Sie die Villen schon. Den Weg hat Anyi früher von hier aus immer genommen, und wenn ich sie mit dem Taxi besuche, fahre ich ihn auch.«
    »Vielen Dank. Ich hoffe, ich kann es mir merken.«
    »Legen Sie sich jetzt bitte auf den Rücken.«
    Gern drehte er sich nun um. Pu stand noch immer hinter seinem Kopf, sie massierte ihm zunächst den Oberkörper, spielte dabei mit seinen Brusthaaren, beugte sich langsam weiter über ihn, sodass er ihren Atem spürte, strich ihm mit beiden Händen sanft über den Bauch hinunter bis zur Scham, zurück zur Brust, wieder hinunter, und mit jeder Bewegung reichten ihre Arme tiefer, aber sie konnte anstellen was sie wollte, bei ihm regte sich nichts mehr. Er war zu abgelenkt, seine Gedanken kreisten um die Diamond-Villen, um eine chinesische Geliebte und einen jungen Amerikaner, der in China offenbar weit mehr gesucht und gefunden hatte als einen neuen Standort für das Familienunternehmen. Warum hatte er seinen Eltern nichts von seiner Freundin erzählt, mit der er offenbar eine Wohnung teilte? Oder wusste Elizabeth Owen davon und hatte es nur ihm, Paul, verschwiegen? In jeder Familie gab es Geheimnisse und Tabus, über die man nicht sprach, schon gar nicht mit einem Fremden. Paul überlegte, welche Mysterien die Owens wohl miteinander teilten? Worüber mochten sich Vater und Sohn so heftig gestritten haben, dass selbst Pu, die Freundin seiner Geliebten, davon wusste?
    Am Ende der Massage schrieb Paul ein üppiges Trinkgeld auf die Rechnung, die er abzeichnen musste, und Pu bedankte sich irritiert. In den letzten Minuten war sie zunehmend frustriert und ungeduldig geworden ob der Regungslosigkeit ihres Kunden.
    Paul eilte wieder hinauf in sein Hotelzimmer, er konnte es kaum abwarten, David von seinen Recherchen im Emperor’s Paradise zu erzählen.
    Das Telefon auf Lamma klingelte lange, Paul zählte jeden Ton und wurde immer unruhiger. Er legte auf und versuchte es noch einmal. Endlich hörte er die Stimme seines Freundes. Er klang angespannt, als würde er kaum Luft bekommen.
    »David,

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