Das Flüstern der Schatten
Börsendaten aus Hongkong, New York, Tokio, Shanghai und Shenzhen flimmerten. Paul war, soweit er es im Halbdunkel erkennen konnte, der einzige Ausländer. Was mochte Michael Owen an diesen Ort gebracht haben? War es eine Empfehlung von Victor Tang, pure Neugierde oder einfach Zufall gewesen? Hatte er sich nur massieren lassen oder junge Mädchen gesucht, die er mit auf sein Zimmer nehmen konnte?
Kaum hatte Paul sich gesetzt, stand eine junge Frau vor ihm, deren Schönheit ihn überraschte. Sie hatte ein ungewöhnlich schmales Gesicht, einen großen Mund mit kräftigen, sinnlichen Lippen, lange schwarze Haare, die weit den Rücken hinunter fielen, und trug einen blau-weiß gestreiften Kittel, der nur knapp über ihren Po reichte. Die Haut ihrer schlanken Beinen war so weiß, dass sie selbst im dämmrigen Licht des Ruheraums schimmerte. Die junge Frau bat ihn mit leiser Stimme, ihr zu folgen, und sie gingen über einen verwinkelten Flur in ein Zimmer, in dem es angenehm warm war, nach ätherischen Ölen roch und zwei Kerzen brannten. Paul zog den Bademantel aus und legte sich mit dem Bauch auf die Massagebank, die Chinesin schloss die Tür und verriegelte sie von innen.
Sie stellte sich neben ihn, bedeckte seinen nackten Unterleib mit einem Handtuch, rieb ihre Hände mit Öl ein und begann mit langsamen Bewegungen ihre Arbeit.
Schon bei der ersten Berührung lief Paul ein wohliger Schauer über den Rücken. Es war mehr ein Streicheln als ein Massieren, ihre Finger spielten mit ihm, glitten über die ölige Haut vom Steißbein bis zu den Schultern und wieder zurück, strichen unter den Achselhöhlen entlang, über die Arme, drückten an manchen Stellen sanft ins Fleisch.
»Das tut gut«, flüsterte er.
»Danke. Warum sind Sie so angespannt?«
»Bin ich das?«
»Ja. Haben Sie nicht häufiger Kopfschmerzen?«
»Manchmal.«
»Ihre Schultern, Ihre Arme, auch der Rücken sind ganz fest und viel zu hart.« Sie schob das Handtuch ein wenig beiseite und massierte mit weichen, drehenden Bewegungen seinen unteren Rücken.
»Zu viel Arbeit«, behauptete Paul.
»Danach fühlt es sich nicht an«, sagte sie und verteilte noch etwas Öl auf seinen Beinen.
»Wonach denn?«
»Ich weiß es nicht, deshalb frage ich.«
Paul schloss die Augen. »Wie heißen Sie eigentlich?«
»Wenn ich arbeite, nennt man mich 77.«
»Und wenn Sie nicht arbeiten?«
»Pu. Und Sie?«
»Paul.«
Sie begann mit zarten Berührungen seine Oberschenkel zu massieren. Wollte sie ihn entspannen oder erregen?
»Ich soll Sie übrigens von Michael grüßen.«
»Danke. Ich habe schon gehört, dass Sie ein Freund von ihm sind. Wie geht es ihm?«
»Gut.«
»Ich habe ihn eine Weile nicht gesehen. Bestimmt zwei Wochen nicht«, sagte Pu.
»Er hat sehr viel zu tun im Moment.«
»Das hat er immer.«
»Da haben Sie Recht. Wann war er das letzte Mal hier?«
»Keine Ahnung. Seitdem Anyi aufgehört hat, war er nicht mehr hier, und das ist jetzt fast genau ein halbes Jahr her.« Nach einer Pause fragte sie: »Kennen Sie Anyi?«
»Nein, bedauerlicherweise noch nicht.«
Er fühlte sich wie ein Pokerspieler, der bluffte und mit jeder Bemerkung seinen Einsatz erhöhte. Eine falsche Frage, eine falsche Antwort, und er wäre entlarvt. Handelte es sich bei Anyi um die Frau, deren Fotos auf Michael Owens Computer unter »A« abgespeichert waren?
»Sie hat auch nie von Ihnen erzählt.« Lag ein Anflug von Misstrauen in ihrer Stimme oder nur Verwunderung?
»Ich habe Michael jetzt auch schon länger nicht gesehen. Ich lebe in Chicago und...«
»In Chicago?«, unterbrach sie ihn verwundert. »Wo haben Sie dann so gut Chinesisch gelernt?«
Er war ein grauenvoller Lügner. In Chicago! Wie kam er ausgerechnet auf diese Stadt, in der er in seinem Leben noch nicht gewesen war? Wenn er Pech hatte, erzählte sie ihm gleich von einem Onkel, der dort ein Restaurant besitzt, und wollte wissen, wo genau Paul wohnt. Er durfte nur so wenig wie möglich von sich erzählen, je mehr er erfinden musste, desto größer war die Gefahr, sich in einem Netz von Widersprüchen zu verfangen. »Ich habe früher sehr lange in Hongkong gelebt und bin viel durch China gereist, dabei habe ich die Sprache gelernt.«
»Sie sprechen sehr gut.«
»Danke.«
Pu massierte weiter seine Oberschenkel, knetete zunächst die Muskeln und strich dann zärtlich an den Innenseiten entlang. Für eine Weile konnte Paul nicht an Michael Owen denken. Er wollte sich von dieser jungen Chinesin nicht verführen
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