Das Flüstern der Toten (German Edition)
oder auf Bewährung mit dem Nachnamen Reyes.«
»Das ging ja flott. Versuch’s mal mit dem Vornamen.«
Ich hörte es klicken, dann sagte sie: »Schon besser. Da gibt’s nur vier.«
»Gut, tja, er müsste jetzt so um die dreißig sein.«
»Und da war’s nur noch einer.«
Ich blieb mit dem Autoschlüssel halb im Schloss stehen. »Einer? Echt?«
»Reyes Farrow.«
Mein Herz klopfte nervös. War’s das? Hatte ich ihn nach all den Jahren wiedergefunden?
»Gibt es ein Verbrecherfoto?«, fragte ich. Cookie antwortete nicht. »Cookie? Bist du noch dran?«
»Meine Güte, Charley. Er … er ist es.«
Ich ließ die Autoschlüssel fallen und stützte mich mit der freien Hand gegen Misery. »Woher weißt du das? Du hast ihn doch nie gesehen.«
»Er sieht super aus, genau wie du ihn beschrieben hast.«
Ich versuchte, kontrolliert zu atmen. Denn ich hatte keine Papiertüte dabei, die ich notfalls hätte verwenden können.
»Ich habe noch nie einen, na ja, so feurigen, so umwerfend gut aussehenden Mann gesehen.«
»Dann muss er es sein«, meinte ich und war mir hundertprozentig sicher, dass sie den Richtigen gefunden hatte.
»Ich schicke dir jetzt das Foto.«
Ich streckte mein Telefon aus und wartete auf die Übertragung. Nach langen Sekunden erschien ein Bild auf dem Display, und ich musste mich anstrengen, nicht aus den Latschen zu kippen. Meine Knie waren wie Pudding. Ich ließ mich auf dem Trittbrett nieder, ohne den Blick vom Display zu wenden.
Cookie hatte einen Volltreffer gelandet. Er war feurig, machte ein zugleich wachsames und wütendes Gesicht, als wollte er die Polizeibeamten warnen, ihm bloß nicht zu nahe zu kommen. Zu ihrem Schutz. In seinen Augen funkelte kaum unterdrückter Zorn. Er war nicht gerade gut drauf gewesen, als das Foto gemacht worden war.
»Er wird noch als Insasse geführt. Ich frage mich, wie oft diese Einträge aktualisiert werden. Charley?« Cookie redete mit mir, aber ich konnte mich von dem Bild nicht losreißen. Sie kapierte jedoch und wartete schweigend, bis ich mich wieder erholte.
Was ich tat. Mit einem neuen Ziel vor Augen hob ich das Telefon ans Ohr und bückte mich nach meinen Schlüsseln. »Ich werde mich mit Rocket treffen.«
Weil ich glaubte, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, steuerte ich eine Seitenstraße an und parkte neben einem Container, in der Hoffnung, die Neighbors würden vielleicht nicht mitbekommen, dass ich in ihre verwaiste Nervenheilanstalt einsteigen wollte. Die Einrichtung war in den Fünfzigern geschlossen worden und irgendwie in die Hände der Neighbors, einer Motorradgang, gelangt. Sie selbst nannten sich Bandits und standen nicht auf ungebetene Gäste. Was ihre Rottweiler deutlich zeigten.
Schon auf dem Weg zur Heilanstalt war ich aufgeregt, aber nicht aus Angst vor den Rottweilern. Heilanstalten faszinierten mich. Während meiner Collegezeit unternahm ich an den Wochenenden gern Ausflüge zu verlassenen psychiatrischen Kliniken, weil die Verstorbenen, auf die ich dort stieß, immer gut drauf, leidenschaftlich und voller Leben waren.
Und diese spezielle Anstalt war die Heimat eines meiner Lieblingsverrückten. Rockets Leben – sein ehemaliges Leben – barg mehr Geheimnisse als das Bermudadreieck, doch ich hatte immerhin erfahren, dass er während der Depression noch ein Kind gewesen war. Seine kleine Schwester war an der Staublunge gestorben. Sie sei ebenfalls immer noch da und leiste ihm Gesellschaft, so erzählte er mir. Ich selbst hatte sie allerdings noch nie gesehen,
Rocket war mir sehr ähnlich. Er hatte seit seiner Geburt ein Ziel, eine Aufgabe. Doch niemand hatte seine Gabe verstanden. Seine Eltern hatten ihn nach dem Tod seiner Schwester der staatlichen Irrenanstalt von New Mexico übergeben. Die jahrelange Fehleinschätzung und die Misshandlungen, darunter regelmäßig verabreichte Elektroschocks, ließen von dem Rocket, der er mal gewesen war, nicht allzu viel übrig.
In mancherlei Hinsicht glich er einem vierzig Jahre alten Kind in einer Keksdose, nur dass seine Keksdose eine verfallene Klapsmühle und seine Kekse Namen waren, nämlich die Namen derer, die dort gestorben waren, die er während unzähliger Tage in die Wände der Anstalt geritzt hatte. Als ultimativer Archivar. Er machte glatt dem Heiligen Petrus Konkurrenz.
Die Aufregung pumpte Adrenalin durch meine Blutbahn. Nun würde ich erfahren, ob Mark Weirs Neffe Teddy noch lebte – ich drückte die Daumen – , und auch alles über Reyes herausfinden. Rocket
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