Das Flüstern der Toten (German Edition)
lange und fest in die Arme. Ich musste an Kaminfeuer in kalten Winternächten denken. Und aus irgendeinem Grund auch an geröstete Marshmallows.
Nach ungefähr einer Stunde und siebenundzwanzig Minuten keuchte ich: »Ich … kriege … keine Luft.«
Sie lehnte sich mit nachdenklich gerunzelter Stirn zurück. »Bin ich überempfindlich, oder ist die Tatsache, dass du in demselben Haus wohnst, in das du mal verschleppt wurdest, wirklich ein kleines bisschen morbide?«
»Ach was, du bist überempfindlich«, antwortete ich, um das Bizarre, Unheimliche der Geschichte zu umgehen.
Ich war heilfroh, dass sie nicht auf weitere Einzelheiten bestand. Der Teufel steckte nämlich im Detail, und ich fühlte mich im Moment nicht gerade wie des Teufels Advokatin. »Oh«, machte ich, als mir ein weiterer Zwischenfall einfiel. »Ein Typ auf der Highschool wollte mich übrigens mal mit dem SUV seines Alten über den Haufen fahren, aber der Böse hat die Kiste in ein Schaufenster gelenkt.« Bei der Erinnerung musste ich grinsen.
»Auf der Highschool wollte dich jemand überfahren?«, wiederholte sie entsetzt.
»Ja, aber nur das eine Mal.«
Sie kniff sich in die Nasenwurzel und fragte: »Und sonst ist dir der Böse nicht mehr begegnet?«
Ich zählte es stumm an den Fingern ab. »Ja, das war’s so ziemlich.«
»Und wir müssen herausfinden, wie Reyes da hineinpasst?«
»Genau. Und wir sollten Marshmallows rösten.«
»Dann ist es meine Pflicht als deine Freundin und Vertraute«, fuhr sie unbeeindruckt fort, »in allen Einzelheiten die Szene unter der Dusche durchzugehen.«
Ich unterdrückte ein Kichern. »Ich bin mir nicht sicher, ob die Duschszene wirklich von Bedeutung ist. Sie kommt mir eigentlich, na ja, eher unwichtig vor.«
»Charley«, begann sie mahnend, »raus damit, oder du stirbst einen langsamen, qualvollen Tod. Wer war unter der Dusche bei dir? Reyes? Der Große Böse? Hilf mir bitte auf die Sprünge.«
»Also gut. Du weißt doch, dass Reyes mich damals, als ich fünfzehn war, Dutch genannt hat, stimmt’s?«
»Stimmt«, sagte sie mit spürbarer Ungeduld.
»Und du weißt auch von dem schönen Mann, der mich seit einigen Monaten jede Nacht in meinen Träumen aufsucht?«
»Ja«, seufzte sie sehnsüchtig.
»Gut, und heute hat mein Traummann Dutch auf den beschlagenen Spiegel geschrieben und mich unter der Dusche Dutch genannt.«
»Jetzt kommen wir zum Punkt.« Sie rutschte an die Stuhlkante und erstarrte, als der Groschen fiel. »Dann ist Reyes dein Traummann?«
»Ich glaube, ja. Aber heute Nacht fiel mir wieder ein, dass der Böse mich am Tag meiner Geburt Dutch genannt hat.«
Sie zog verwirrt die Stirn kraus. »Und wer war dann bei dir unter der Dusche?«
Ich sah sie grinsend an. Plötzlich hatte ich einen Riesenrespekt vor der Frau, die da neben mir saß. »Ich hab dir erzählt, dass mir ein großes, unheimliches Wesen folgt und mir immer wieder das Leben rettet, dass ich mich an den Tag meiner Geburt erinnere und dass ich alle jemals gesprochenen Sprachen verstehe, und trotzdem bist du noch nicht schreiend davongelaufen. Wie kommt es, dass du mir jedes Wort abkaufst?«
Nach einer langen, nachdenklichen Unterbrechung fragte sie: »Du versuchst doch nicht etwa, vom Thema abzulenken?«
Ich wäre fast lachend vom Stuhl gefallen. Ich fasste mir an den schmerzenden Brustkorb und rief: »Lass das! Bring mich nicht zum Lachen. Das tut weh.«
»Tut mir leid.«
Es tat ihr überhaupt nicht leid. Das konnte ich deutlich erkennen.
»Was hast du über den Knast herausgefunden?«, erkundigte ich mich und richtete meinen tränenverschleierten Blick auf den Bildschirm. »Sitzt Reyes noch ein? Ist er … überhaupt noch am Leben?«
»Die Vollzugsbeamtin konnte mir nur sagen, dass Reyes bei der Strafvollzugsbehörde noch als im Zellenblock D untergebrachter Insasse geführt wird. Aber es kam mir so vor, als hätte sie mir nicht alles gesagt.«
»Ich fahre da morgen hin.«
»Ins Gefängnis?«
»Ja.« Ich klickte die Personalakten der Gefängnisverwaltung an und markierte das Bild von Neil Gossett. »Ich habe mit dem stellvertretenden Gefängnisdirektor die Schulbank gedrückt.«
»Echt? Freund oder Feind?«
Das fragte ich mich auch. »Schwer zu sagen. Ich bezweifle, dass er auf sein Vitamin D verzichtet hätte, um mich zu retten, wenn ich in der Schulmensa plötzlich in Flammen aufgegangen wäre, andererseits bin ich mir ziemlich sicher, dass es ihm später leidgetan hätte.«
»Ach, du liebe Güte«, sagte
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